Forschungsstelle Neupietismus

Grundinformationen zum Neupietismus

Grundfragen
▶︎ Was ist Pietismus?
▶︎ Was verstehen wir unter Neupietismus?

Der Barockpietismus
▶︎ Vorläufer des Pietismus
▶︎ Philipp Jakob Spener
▶︎ August Hermann Francke
▶︎ Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
▶︎ Die Äußere Mission

Die Erweckungsbewegung
▶︎ Vorläufer der Erweckungsbewegung
▶︎ Ein Überblick über die deutsche Erweckungsbewegung
▶︎ Analyse und Bewertung der Erweckungsbewegung
▶︎ Internationale erweckliche Aufbrüche im 19. Jahrhundert
▶︎ Die Entstehung der Inneren Mission
▶︎ Die Äußere Mission zur Zeit der Erweckungsbewegung

Die Entstehung der Gemeinschaftsbewegung
▶︎ Die Lage in Deutschland um 1875
▶︎ Die Heiligungsbewegung
▶︎ Die Evangelisationsbewegung
▶︎ Die Heilungsbewegung
▶︎ Die Gründung der organisierten Gemeinschaftsbewegung
▶︎ Die Glaubensmissionen
▶︎ Die Abspaltung der Pfingstbewegung
▶︎ Die Evangelische Allianz

Der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband
▶︎ Die Entstehung des DGD und seiner Einrichtungen
▶︎ Die Marburger Mission

Grundfragen

Was ist Pietismus?

1. Was bezeichnet man als „Pietismus“?

Der Begriff Pietismus kommt vom lateinischen pietas = Frömmigkeit. Um 1680 beginnt man in Deutschland zunächst spöttisch bestimmte Gruppen, die sich um geistliche Erneuerung bemühen, Pietisten (also „Frömmler“) zu nennen. 1689 bringt der Leipziger Pietistenfreund Joachim Feller es mit dem Gedicht auf den Punkt:

Es ist jetzt stadtbekannt der Nam der Pietisten. Was ist ein Pietist?
Der Gottes Wort studiert und nach demselben auch ein heilig Leben führt.

Diese Gruppen übernehmen dann bald den Begriff Pietismus als ehrenvolle Selbstbezeichnung. Zwischen 1690 und 1730 wird dieser Pietismus in Deutschland zu einer starken und gesellschaftsprägenden Kraft. Danach wird er immer mehr von der Aufklärung verdrängt, dennoch bleibt er hier und dort auch im 18.Jh. von Bedeutung.

Manche Forscher (wie z.B. Johannes Wallmann) bezeichnen mit dem Begriff Pietismus nur jene Epoche von ca. 1670 – 1750 mit ihren Vorläufern und Nachwirkungen. Andere (wie z.B. Martin Brecht) fassen unter dem Begriff Pietismus alle ähnlich geprägten geistlichen Erneuerungsbewegungen von 1600 bis zur heutigen Gemeinschaftsbewegung. Dabei wird dann manchmal noch differenziert zwischen dem Neupietismus, der seit Ende des 19.  Jahrhunderts starke zusätzliche Impulse aus der angloamerikanischen Heiligungsbewegung aufnahm und dem Altpietismus, der davon weniger berührt wurde.

2. Die Kennzeichen des Pietismus

Der Pietismus ist durch folgende Akzente gekennzeichnet:

  • Bekehrung und Wiedergeburt: Der Pietist hat eine Erfahrung der persönlichen Hinwendung zu Gott und der geistlichen Erneuerung gemacht.

  • Heiligung: Das alltägliche Leben des Pietisten soll nach Gottes Willen und in der Verbindung zu ihm gestaltet werden.

  • Gemeinschaft: Die geistliche Erbauung sucht der Pietist in kleinen Gruppen Gleichgesinnter (Konventikel). In dieser Gemeinschaft wird Glaube gelebt.

  • Bibelstudium: Lebensrichtschnur ist für den Pietisten allein die Heilige Schrift. Sie wird persönlich und in Gemeinschaft studiert, vor allem um daraus Impulse für die persönliche Heiligung zu gewinnen.

  • Überwindung von Konfessionsgrenzen: Wer wiedergeboren ist und ein geheiligtes Leben führt, der gilt als Bruder oder Schwester, egal, welcher Kirchenorganisation er angehört.

  • Abgrenzung zur Welt: Wer nicht wiedergeboren ist, der gehört nicht zur Gemeinschaft der Kinder Gottes. Von diesen Personen grenzt man sich ab.

3. Die Spielarten des Pietismus

Es lassen sich sechs verschiedene Grundrichtungen des Pietismus unterscheiden:

  • Der lutherische Pietismus (Spener): gemeinschaftsliebend und luthertreu.

  • Der hallesche Pietismus (Francke): zuchtvoll, strukturiert und weltverändernd

  • Der reformierte Pietismus (Tersteegen): innig, mystisch, laienfördernd

  • Der Herrnhuter Pietismus (Zinzendorf): ökumenisch, liebevoll, mit Weltperspektive

  • Der schwäbische Pietismus (Bengel): tiefsinnig, grüblerisch, kirchennah

  • Der radikale Pietismus (von Buttlar): separatistisch, häretisch

4. Der Pietismus - ein Kind der Neuzeit?

Der Pietismus ist in gewisser Weise eine „moderne“ Erscheinung. Der in der Zeit liegende Individualismus führte dazu, dass auch Christen sich verstärkt um das individuelle geistliche Leben kümmerten. Der Zeitgeist der Moralisierung passte gut zur neuen Betonung der Heiligung. Die allgemeine Verschiebung der Blickrichtung von absoluten Lehrsätzen hin zur persönlichen Erfahrung (Empirismus) war von Pietisten gut nachvollziehbar. Auch die nach den Religionskriegen allgemein wachsende Entfremdung von der mit dem Staat verwobenen Großkirche konnten Pietisten sehr gut teilen. Der entscheidende Unterschied zur Aufklärung lag nur darin, dass man bei aller Kritik an der Kirche doch an den Inhalten der Orthodoxie festhielt. Das neuzeitliche Bewusstsein wurde verbunden mit dem traditionellen absoluten Vertrauen in die Wahrheit der Heiligen Schrift und nicht (wie in der Aufklärung) mit einem neuen Vertrauen auf die Vernunft.

Insofern kann der Pietismus tatsächlich als eine moderne Bewegung betrachtet werden, die versucht hat sich voll auf das neuzeitliche Bewusstsein einzustellen und dabei fest auf dem Boden der Bibel zu bleiben.


Was verstehen wir unter "Neupietismus"?

Als im Jahr 2006 unsere Forschungsstelle Neupietismus gegründet wurde, geschah die Begriffswahl „Neupietismus“ mit einer heuristischen Absicht, die in der Satzung unter anderem so formuliert wurde, dass es ein zukünftiges Ziel der Forschungsstelle sei „den Begriff Neupietismus zu definieren und seine Verwendung zu klären“. Beim ersten Neupietismus-Symposium im September 2009 lieferte Frank Lüdke eine vorläufige Definition:

„Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass unter den Begriff Neupietismus diejenigen Bewegungen in der Evangelischen Kirche zu fassen sind, die in der Tradition des Barockpietismus und der Erweckungsbewegung stehen und diese für die Gegenwart fruchtbar gemacht haben. Ihre Kennzeichen sind das Selbstverständnis als Gruppen von Menschen, die eine persönliche Beziehung zu Jesus pflegen und das gemeinschaftliche Bibelstudium hoch schätzen, was schließlich zu einem von der Bibel geprägten Lebensstil führen soll. Organisiert ist man in Vereinen, trifft sich vielfach auf Konferenzen und engagiert sich für Diakonie, Evangelisation und Äußere Mission. Daneben besteht eine starke interdenominationelle und internationale Vernetzung mit dem globalen Evangelikalismus.“

In der Gegenwart findet sich dieser „Neupietismus“ vor allem im Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband, also in der Gemeinschaftsbewegung, allerdings mit zwei bedeutenden Erweiterungen, nämlich auf der einen Seite dem so genannten „innerkirchlichen Pietismus“, der im Raum der EKD auch außerhalb des Gnadauer Verbands in vielen Kirchengemeinden und Initiativen auftritt, und auf der anderen Seite dem im weiteren Rahmen der Evangelischen Allianz unter Einbeziehung des Freikirchentums organisierten Evangelikalismus.

Diese Begriffs-Definition von „Neupietismus“ soll im Folgenden in einen historischen Kontext gestellt werden. 

1. Drei verschiedene historische Definitionen des Begriffs „Neupietismus“

Wenn man die Literatur von Theologie und Geschichtswissenschaft der letzten 150 Jahre nach dem Begriff „Neupietismus“ durchsucht, lassen sich drei verschiedene Gebrauchsweisen unterscheiden.

1.1. Neupietismus im weitesten Sinn = innerkirchliche Erneuerungsbewegungen seit 1800

Teilweise wird der Begriff Neupietismus relativ unscharf auf alle innerkirchlichen erwecklich-evangelischen Frömmigkeitsbewegungen der Vergangenheit, zurückreichend bis in das frühe 19. Jahrhundert, bezogen. Martin Schmidt schreibt 1962 in seinem EKL-Artikel zumBegriff Nerupietismus: „Neupietismus, zusammenfassende Bezeichnung für alle Bewegungen, die im 19. und 20. Jh., den Ansatz des alten Pietismus teils bewusst, teils unbewusst wiederaufnahmen.“ Auch Otto Rodenberg formuliert 1969 ähnlich: „Unter Neupietismus verstehen wir etwas summarisch den Pietismus des 19. und 20. Jahrhunderts.“ Man sah zwar sehr bewusst, dass sich die Gemeinschaftsbewegung in wesentlichen Punkten von der Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts unterschied, vor allem durch die angloamerikanischen Einflüsse, welche die Akzente der Evangelisation und der Heiligung wesentlich verstärkt hatten. Dennoch war die Schnittmenge offensichtlich, die beide Bewegungen mit den Grundanliegen des Barockpietismus verband, sodass man sie beide berechtigterweise als sukzessive Nachfolger der frühpietistischen Tradition ansah und nicht unpassend mit dem Sammelbegriff „Neupietismus“ versah. Nach dieser Definition wäre also „Neupietismus“ ein Sammelbegriff für alle erwecklichen Strömungen innerhalb der evangelischen Kirche, die seit ca. 1800 Traditionen des Barockpietismus weitertragen und immer wieder neu beleben.

1.2. Neupietismus im engeren Sinn = Gemeinschaftsbewegung seit 1875

Um 1900 begannen Gegner der Gemeinschaftsbewegung, eben diese als „Neupietismus“ zu bezeichnen. In der Folgezeit stzte sich dann vielfach durch, dass auch Vertreter der Gemeinschaftsbewegung selbst sowie Historiker diese Begriffsfüllung übernahmen und bis heute verwenden. Dazu zwei kurze Beispiele:

Johannes Jüngst schreibt schon 1906 über „die moderne, neupietistische Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung“ die er auch den „heutigen Neupietismus“ nennt und ihn als ein „Neuauftreten des reinen Pietismus“ charakterisiert.

Hans Preuß versteht 1926 „unter Neupietismus die Frömmigkeitsbewegung die genau 200 Jahre später [d.h. nach dem Erscheinen von Speners ‚Pia Desideria‘], 1875, durch englisch-amerikanische Anregung auf deutschem Boden unter dem Namen der ‚Gemeinschaftsbewegung‘ anhob und bis zur Gegenwart angehalten hat.“ 

1.3. Neupietismus im speziellen Sinn = die besonders angloamerikanisch geprägten Verbände der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung

Wir sehen also, dass die Gemeinschaftsbewegung gerade deshalb mit dem Begriff „neupietistisch“ qualifiziert wurde, weil durch die angloamerikanische Heiligungsbewegung tatsächlich neuartige Zuflüsse aufgenommen wurden. Man könnte also sagen: Nur dort, wo wirklich „Neues“ prägend wurde, kann man wirklich von Neupietismus sprechen. Daraus ergab sich, dass man begann, auch innerhalb der Gemeinschaftsbewegung zwischen Alt- und Neupietismus zu unterscheiden.

Dabei wird „Neupietismus“ typologisch verstanden als eine inhaltlich gefüllte Prägung, die einen besonderen Akzent auf Evangelisation und Heiligung legt. Diese zunächst typologische Begriffsdefinition führte dann in der Gemeinschaftsbewegung bald dazu, dass man bestimmte Verbände eher dem einen oder anderen Typ zuordnete. Ludwig Tiesmeyer versteht 1917 „den Neupietismus“ als eine von sechs verschiedenen Gemeinschaftsströmungen: „Sämtliche vorhandenen Gemeinschaften gliedern sich in folgende sechs Kreise: in die altpietistischen, in die Hahnschen, in die Pregizerianischen, in die der Reichsbrüder, in die Kukatschen und in die des Neupietismus.“ Dabei ist interessant, dass zu der Zeit nur zwei der sechs Richtungen im Gnadauer Verband organisiert waren. Die Hahnschen, Pregizerianer, Kukatianer wurden nie Mitglied im Gnadauer Verband und die Reichsbrüder erst unter Existenz-Druck 1933. Bis zum Dritten Reich gab es von daher aus dieser Perspektive innerhalb Gnadaus nur zwei Grundströmungen: Altpietisten und Neupietisten.

Dazu kam, dass die stark neupietistisch geprägten Gemeinschaftsverbände vor allem in Ostdeutschland ihren Schwerpunkt hatten, so dass man den Neupietismus manchmal auch regional zuordnete. Der langjährige Gnadauer Präses Walter Michaelis beschrieb das im Rückblick auf die Geschichte des Gnadauer Verbands vor dem 2. Weltkrieg so: „Nach seiner Gründung trat bald der Gegensatz zwischen ‚Osten und Westen‘, wie man kurzweg sagte, auf den Konferenzen und in den Vorstandssitzungen stark hervor. Die theologischen Beobachter der Bewegung nannten es den Unterschied zwischen Alt- und Neupietismus.“ So kam es dazu, dass innerhalb des Gnadauer Dachverbands bald ganze Mitgliedsverbände eher dem „Altpietismus“ oder dem „Neupietismus“ zugerechnet wurden, je nachdem, wie schwach oder stark die Akzente aus der angloamerikanischen Heiligungstheologie und Evangelisationspraxis aufgenommen wurden. Teilweise wird diese inner-gnadauer Unterscheidung, die also zunächst typologisch gefüllt und dann auf einzelne Verbände angewendet wurde, auch einfach als zeitliche Abfolge definiert, da eben jene „neupietistischen“ Verbände auch so gut wie deckungsgleich mit den jüngeren Verbänden Gnadaus sind.

Otto Rodenberg schreibt 1970: „Um das jüngere Werk gegenüber dem älteren zu kennzeichnen, hat man es gelegentlich neupietistisch genannt. Noch ausgeprägter dürfte die Bezeichnung in Württemberg anzutreffen sein, einfach deshalb, weil es dort nominell einen ‚altpietistischen Gemeinschaftsverband‘ gibt, demgegenüber andere Verbände selbstverständlich neupietistisch genannt werden mussten und konnten.“

 

2. Die Entwicklung des Begriffs

Wie von Otto Rodenberg schon angedeutet, hat der Begriff „Neupietismus“ eventuell seine älteste Wurzel in einer komplementären Nachbildung zum Begriff der württembergischen „Altpietisten“, die sich seit 1857 unter diesem Namen organisiert hatten. Danach scheint es eine Phase gegeben zu haben, in der der Begriff „Neupietismus“ zunächst von Gegnern auf die Gemeinschaftsbewegung angewendet wurde. Im weiteren Verlauf wurde der Begriff von Vertretern der Gemeinschaftsbewegung selbst übernommen, um eine bestimmte, besonders neuartige Strömung innerhalb der Bewegung zu identifizieren, und sich damit intern zu differenzieren. Diese neupietistische Strömung, bzw. Prägung konnte von Beginn an durch klare Merkmale beschrieben werden (vor allem die Betonung von Evangelisation und Heiligung) und sogar einzelne Gnadauer Mitgliedsverbände konnten damit sinnvoll identifiziert werden (z.B. EC, Liebenzell, Zeltmission, DGD). Da diese Binnendifferenzierung von Alt- und Neupietismus innerhalb der Gemeinschaftsbewegung aber vor allem außerhalb Württembergs von außen kaum nachvollziehbar war, wurde von außen der Begriff „Neupietismus“ teilweise auch auf alle pietistisch geprägten Gruppierungen der Neuzeit ausgeweitet, was dann sogar über den organisierten Gnadauer Verband hinausgeht, da es fließende Übergänge und Verbindungen sowohl zum innerkirchlichen Pietismus als auch zum weiteren Raum der Evangelischen Allianz gibt.
 

3. Identitätskonstruktionen

Jörg Ohlemacher schreibt: „Mit dem Begriff Neupietismus hat man ähnlich wie mit Erweckung versucht, Kontinuitäten mit vorauslaufenden Epochen der Frömmigkeitsgeschichte herzustellen.“

Die Anwendung des über 300 Jahre alten Begriffs „Pietismus“ auf eine gegenwärtig existierende Bewegung soll also eine Kontinuität konstruieren. Man möchte gemeinsam mit dem Barock-Pietismus in einer Linie gesehen, verstanden und beurteilt werden. Deshalb bezeichnen sich bis heute viele Werke und Personen aus der Gemeinschaftsbewegung als „pietistisch“.

Genau diese Identitätskonstruktion wird nun aber massiv infrage gestellt und zwar vor allem von dem methodistischen Kirchenhistoriker Karl Heinz Voigt.

Nachdem Voigt schon seit gut 20 Jahren verschiedentlich zu diesem Thema die Stimme erhoben hatte, ist 2014 sein Band Der Zeit voraus – Die Gemeinschaftsbewegung als Schritt in die Moderne? erschienen, in dem er versucht seine These massiv zu untermauern, dass es nicht angemessen sei, die Gemeinschaftsbewegung als „Neupietismus“ zu bezeichnen. Er hält die Anwendung dieses Begriffs auf die Gemeinschaftsbewegung für eine nicht zutreffende, aber dennoch bewusst selbst gesteuerte Identitätskonstruktion. Aus seiner Sicht steht die Gemeinschaftsbewegung eben gerade nicht in einer Traditionslinie mit dem Pietismus, sondern in viel stärkerem Maße mit der angloamerikanischen methodistischen Bewegung, so dass man den Gnadauer Verband viel treffender als „landeskirchlichen Methodismus“ (101) bezeichnen müsste. Die neuartige Betonung auf Evangelisation und Heiligung, die Gründung von eigenständigen Versammlungen und das praktizierte allgemeine Priestertum, das zur „Verkündigung durch autorisierte Laienprediger oder Laienevangelisten führte“ (34), seien typisch methodistische Anliegen gewesen, die von Theodor Christlieb und den Gnadauer Gründervätern bewusst in den Raum der evangelischen Landeskirchen eingebracht wurden, um sie neu zu beleben.

Gleichzeitig aber war damals der Begriff „methodistisch“ im allgemein-kirchlichen Bewusstsein so negativ belastet, dass man sich sprachlich und organisatorisch bewusst davon abgegrenzt hat. Damit wollte man sich dem entziehen, von einer Methodismus-Kritik betroffen zu werden, „die das gesetzte Ziel, die Evangelisierung Deutschlands, schwer behindert haben würde.“ (48) Denn „die freikirchliche Erfahrung zeigte, welchen Vorteil es in der öffentlichen Wahrnehmung gerade im Zusammenhang mit der Evangelisation bedeutete, als ‚kirchlich’ in Erscheinung treten zu können und damit […] von dem kirchlicherseits erzeugten Bild einer ‚außerkirchlichen Sekte’ frei zu sein.“ (62)

Allerdings stand auch der Begriff „Pietismus“ vor allem durch die Kritik zunächst von Albrecht Ritschl schon seit 1880 und später von Karl Barth in der Weimarer Republik in einem schlechten Ansehen, so dass man sich nur sehr selten selbst als „pietistisch“ und schon gar nicht als „neupietistisch“ bezeichnete. Wenn überhaupt dann wurden diese Label von außen oder als Kategorien im akademischen Diskurs verwendet. Erst nach dem 2. Weltkrieg begann man in der Gemeinschaftsbewegung sich mehr und mehr als Teil des „Pietismus“ zu bezeichnen, was dann in der Amtszeit von Kurt Heimbucher und Christoph Morgner seit den 1980er Jahren geradezu als ehrenvolle Selbstbezeichnung verwendet wurde.

 

4. Zur Brauchbarkeit des Begriffs „Neupietismus“

Der Begriff „Neupietismus“ ist von unserer Marburger „Forschungsstelle Neupietismus“ in den letzten 15 Jahren als wissenschaftliche Kategorie ins Gespräch gebracht worden, gerade um damit deutlich zu machen, dass es bei denjenigen, die die Grundanliegen des Pietismus bis heute weitertragen, um eine Frömmigkeitsbewegung geht, die über die bloße „Gemeinschaftsbewegung“ hinausgeht. Es soll dadurch eben der unorganisierte „innerkirchliche Pietismus“ genauso im Blick bleiben, wie die vielfältigen Verflechtungen in den freikirchlichen Bereich hinein.

Der Alternativbegriff „Evangelikalismus“ umfasst typologisch und organisatorisch allerdings weit mehr als den Neupietismus. Die Begriffe sind also nicht deckungsgleich verwendbar, sondern der Neupietismus bildet nur eine Teilmenge des Evangelikalismus. Zudem wird der Begriff „evangelikal“ im Bereich der Gemeinschaftsbewegung nur selten angewandt, da er vielfach heute – ähnlich wie der Begriff „Methodismus“ vor 150 Jahren – als amerikanisch, möglicherweise „fundamentalistisch“ und damit letztlich negativ empfunden wird.

So erscheint der Begriff „Neupietismus“ als historiographische Klassifikation am brauchbarsten, entweder in einem engeren Sinn, um bestimmte Strömungen innerhalb der Gemeinschaftsbewegung zu identifizieren, oder in einem weiteren Sinn um die Gemeinschaftsbewegung und ihre Ränder insgesamt in die Frömmigkeitsgeschichte einzuzeichnen. Dabei lässt der Begriff „Neupietismus“ offen, welcher der beiden Begriffsteile der entscheidende ist, das Neue oder der Pietismus, also entweder die Theologie und Organisationsformen, die aus der englischsprachigen Welt übernommen wurden oder die alten deutschen Traditionslinien. Genau diese Offenheit macht den Begriff auf unterschiedlich geprägte Kontexte anwendbar, wie es für die Erforschung einer vielfältigen Bewegung notwendig ist.

Die ausführliche Version dieses Textes inkl. aller Quellenbelege findet sich in:
Neupietismus – eine begriffliche Spurensuche, in: Lüdke, Frank/Schmidt, Norbert (Hg.): Pietismus – Neupietismus – Evangelikalismus. Identitätskonstruktionen im erwecklichen Protestantismus, SEHT 6, Berlin 2017, 9-23.

Der Barockpietismus

Vorläufer des Pietismus

1. Das Zeitalter der Orthodoxie

Nach Beendigung der innerlutherischen Lehrstreitigkeiten durch die Konkordienformel 1577 konzentriert sich das Luthertum zunächst auf die genaue und ausführliche Lehrbildung. Es entstanden große Dogmatiken, die den evangelischen Glauben bis in alle Einzelheiten ausformulierten. Wichtigste Vertreter waren Johann Gerhard (1582 – 1637), Abraham Calov (1612 – 1686) und Johann Andreas Quenstedt (1617 – 1688) sowie der schließlich schon vom Pietismus beeinflusste David Hollaz (1648 – 1713). Besondere Bedeutung hatte für sie die gegenüber dem Katholizismus besonders herausgestellte Verbalinspirationslehre. In den Gottesdiensten wurde oft sehr polemisch gegen irgendwelche Irrlehren gepredigt, von denen viele Kirchgänger vorher noch nie etwas gehört hatten. Es kommt in dieser dritten und vierten Generation nach Luther vielfach dazu, dass der Glaube sich von Herz und Hand stark in den Kopf verlagert. Dennoch pflegten viele Vertreter der Orthodoxie auch eine tiefe persönliche Frömmigkeit (so z.B. der einflussreichste Theologieprofessor Johann Gerhard, der Liederdichter Paul Gerhardt oder selbst Johann Sebastian Bach)


2. Johann Arndt (1555 – 1621)

Die bedeutendste Persönlichkeit für die Frömmigkeitsentwicklung im 17. und 18.Jahrhundert in Deutschland und in gewisser Weise der Vater des Pietismusmus war Johann Arndt. Er war lutherischer Pfarrer in Quedlinburg, Braunschweig und Eisleben, bevor er 1611 nach Celle gerufen wurde und dort bis zu seinem Tod 1621 als Generalsuperintendent des Fürstentums Lüneburg wirkte. Von großem Einfluss wurden seine Vier Bücher vom wahren Christentum, die zwischen 1605 und 1610 erschienen sind. Sie erleben bis 1740 allein in Deutschland 95 Auflagen! Arndt geht es darin darum, dass die Lehre des Luthertums ins Leben verwandelt wird. Gläubige sollten zu einer tieferen Frömmigkeit und zu echter Glaubenspraxis im Alltag geführt werden. „Christus hat viele Diener, aber wenig Nachfolger“, so lautet ein bekannter Ausspruch Arndts. Äußerlich ganz in Übereinstimmung mit der lutherischen Lehre versucht Arndt in seinen Büchern die mystische Frömmigkeit des Mittelalters mit dem evangelischen Glauben zu verbinden. Dies brachte ihm den Vorwurf des Spiritualismus ein, also, dass er das äußere Wort der Bibel durch innere Offenbarungen ersetze. Doch vor allem die Unterstützung von Johann Gerhard ermöglichte ihm dennoch eine kirchliche Karriere.


3. Die Reformorthodoxie in der lutherischen Kirche

Arndt war nicht der einzige, der versuchte, die Rechtgläubigkeit des Luthertums und tiefe Frömmigkeit beieinander zu halten. In diesem breiten Strom der so genannten Reformorthodoxie gab es Theologen wie Johann Valentin Andreae (1586 – 1654), der sich um den Wiederaufbau der württembergischen Kirche nach dem 30-jährigen Krieg verdient gemacht hat, es gab einflussreiche Erbauungsschriftsteller wie Philipp Nicolai und Christian Scriver und radikale Kirchenkritiker wie Theophil Großgebauer, der in seiner Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion (1661) die lutherische Kirche als Babel bezeichnet. Eine lange Wirkungsgeschichte entwickelten auch die theosophisch-mystischen Schriften von Jacob Böhme (1575 – 1624), einem Schuhmacher aus Görlitz. Er betonte die innere Wiedergeburt des Menschen und gab dem späteren schwärmerischen Pietismus wichtige Impulse. In seinen Visionen wird offensichtlich, wie der damalige Mensch sich über die theologischen Formeln hinaus nach unmittelbarer Gotteserfahrung sehnte.


4. Die Erneuerungsbewegung in der reformierten Kirche

Schon Calvin hatte eine stärkere Betonung auf den geheiligten Lebenswandel der Christen gelegt als das Luthertum. Dennoch erlebt auch die reformierte Niederlande zu Beginn des 17.Jh. zunächst eine Zeit der orthodoxen Lehrstreitigkeiten. Eine Gegenbewegung entsteht durch den Theologieprofessor Gisbert Voetius (1588 – 1676) in Utrecht, der massiv auf die Beachtung eines geheiligten Lebenswandels drängt und dabei dazu ganz genaue Verbotskataloge veröffentlicht. Dieser so genannte Präzisismus sollte den Pietismus in der Folgezeit immer wieder prägen. Voetius beginnt als einer der ersten die ernsthaften Christen zu separaten Versammlungen einzuladen, ohne die Volkskirche preiszugeben.

Der französische Jesuit Jean de Labadie (1610 – 1674) tritt zum reformierten Glauben über und wirkt als beeindruckender Bußprediger. 1666 wird er Pastor einer Gemeinde im friesischen Middelburg. Dort kommt es zu einer großen Erweckung und schließlich zur Gründung einer separatistischen Gemeinschaft, die in der Folgezeit ins Schwärmerische abgleitet und an verschiedene Orte flüchten muss. Im nordwestlichen Deutschland kommt es in der Gemeinde des reformierten Pfarrers Theodor Undereyck (1635 – 1693) in Mülheim/Ruhr als erstes zu Hausversammlungen neben dem Gottesdienst. Als Undereyck nach Bremen wechselt führt er dies auch dort gegen starke Widerstände ein. Die Mülheimer Gemeinde vermittelt später auch Gerhard Tersteegen (1697 – 1769) wichtige Impulse. Er wird der Hauptvertreter eines mystisch geprägten reformierten Pietismus mit teilweise starken separatistischen Tendenzen.

Philipp Jakob Spener (1635-1705)

1. Die Jugend in Rappoltsweiler (1635-1651)

Philipp Jakob Spener wird am 13.1.1635 (also mitten im Dreißigjährigen Krieg) im elsässischen Rappoltsweiler (Ribeauville) als erstes von 9 Kindern in eine orthodox-lutherische Familie geboren. Sein Vater ist Jurist des evangelischen Fürsten von Rappoltstein. Hier am Hof bekommt Spener eine höfisch-asketisch-fromme Grundprägung. Er liest Lewis Baylys Praxis Pietatis und Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum und wird ein ernsthaft frommer Lutheraner.


2. Studium in Straßburg (1651-1659)

Spener studiert zunächst drei Jahre lang Philosophie im vom 30-jährigen Krieg unberührten Straßburg. Er versucht in seiner Magisterarbeit die Ethik aus der natürlichen Theologie abzuleiten. Anschließend folgen sechs Jahre Theologiestudium in Straßburg im Geist der lutherischen Orthodoxie. Hier lernt er biblisch genaue Exegese, er eignet sich die lutherisch-orthodoxe Dogmatik an und vertieft die Verbindung zur Erbauungsliteratur von Arndt und Bayly.


3. Speners Bildungsreisen von (1659-1662)

Im Anschluss ans Studium waren damals Studienreisen an anderen Universitäten üblich. 1659 geht Spener zunächst für ein Jahr nach Basel um bei dem Hebraisten Johann Buxtorf den Talmud und das rabbinische Schrifttum besser kennen zu lernen. Buxtorf fördert in Spener die Ansicht, dass die einfache biblische Lehre einer scholastischen Dogmatik vorzuziehen ist. 1660/61 geht er nach Genf, wo er unter anderem Jean de Labadie begegnet. Spener ist von dessen Forderung einer Rückkehr zum biblischen Urchristentum sehr beeindruckt. In Lyon trifft er Claude-Francois Menestrier, den Vater der Heraldik (Wappenkunde). Durch ihn angeregt führte Spener die Heraldik in Deutschland ein. 1662 geht Spener nach Tübingen. In dieser Zeit lernt er das Buch „Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion“ vom Rostocker Theophil Großgebauer kennen. Dieser fordert eine individuelle, datierbare Bekehrung mit Bußkampf und verwarf alle instrumentale Kirchenmusik. Spener bezeugte, dass Großgebauers Buch ihm die Augen für den Schaden der Kirche geöffnet hat.


4. Zurück in Straßburg (1662-1666)

Spener war hin- und hergerissen, ob er eine kirchliche oder universitäre theologische Laufbahn einschlagen sollte. 1663 wird er Freiprediger (d.h. ohne Kasualien und Seelsorge) am Straßburger Münster und promoviert schließlich 1664 schließlich zum Doktor der Theologie (was damals sehr selten war). Am 23.6.1664 feierte er seine Promotion und gleichzeitig (um Kosten zu sparen) seine Hochzeit mit der 20-jährigen Susanne Ehrhardt, mit der er 11 Kinder bekam. Die beiden blieben zunächst in Straßburg, um auf eine frei werdende Professur zu warten.


5. Senior in Frankfurt (1666-1686)

Im Juli 1666 wird Spener (mit 31 Jahren!) als Senior nach Frankfurt berufen, d.h. er sollte das Kollegium der zwölf Pfarrer leiten, welche die ca. 15.000 Lutheraner der Stadt versorgten. Ihm gelingt es die zerstrittene Frankfurter Situation gut zu einen. Im Zentrum seines Dienstes stand die Ausarbeitung von lebensnahen und praktischen Predigten in der Barfüßerkirche (heute steht dort die Paulskirche). Er beginnt neben den festgelegten Evangelienperikopen auch über die ntl. Briefe zu predigen. Spener erarbeitet einen Katechismus, der sehr praktisch ausgerichtet war und fördert die Einrichtung der Konfirmation. Er bringt den Frankfurter Magistrat 1679 dazu, ein städtisches Armen- und Waisenhaus einzurichten und setzt sich aus missionarischen Gründen für eine gute Behandlung der ca. 2000 Juden in Frankfurt ein. Er hilft dem Gedanken der Judenmission in Deutschland zum Durchbruch (an Heidenmission denkt er nicht). In den ersten 10 Jahren in Frankfurt liest Spener zum ersten Mal intensiv alle Lutherschriften und wird von ihm stark inspiriert. Diese starke Gründung in der Theologie Luthers gab Spener in der Folgezeit den Mut sich unter Berufung auf Luther für eine Erneuerung der lutherischen Kirche einzusetzen.


6. Die Collegia Pietatis

Im Sommer 1670 wird Spener von 4-5 theologisch gebildeten Männern gebeten, sich mit ihnen regelmäßig zum erbaulichen Gespräch zu treffen. Sonntags und Mittwochs traf man sich nun nach der kirchlichen Betstunde. Spener las aus einem Erbauungsbuch, kommentierte es und öffnete dann das freie Gespräch. Ziel war ein gegenseitiges Anspornen zur Frömmigkeit.

Die Einrichtung der Treffen war also keine planvolle Idee Speners. Gegen Ende des Jahres war der Kreis auf 20 Männer angewachsen, nach und nach verlagerte sich das Schwergewicht auf einfache, ungebildete Leute. 1674 ersetzte man die Lektüre durch das Studium von Bibeltexten, 1675 war der Kreis auf 50 Besucher angewachsen. Vorbilder für ein solches Treffen gab es kaum. Spener selbst beruft sich nur auf ein seit 1650 in Amsterdam bestehendes anerkanntes Kollegium.


7. Die Pia Desideria (1675)

Ein Frankfurter Verleger bittet Spener im Frühjahr 1675 um ein Vorwort zu einer Neuauflage von Johann Arndts Predigtsammlung. Spener wusste, dass sich dieses Buch weit verbreiten wird und er nutzt die Chance um in seinem Vorwort auf ca. 100 Seiten ein grundsätzliches Programm zur Kirchenerneuerung entwirft. Dieser Text weckt so starkes Interesse, dass er im Herbst als eigenes Buch erscheint, unter dem Titel: „Pia Desideria [dt.: Fromme Wünsche] oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen“. Inhaltlich geht es um Folgendes:

Vorrede:
Angesprochen sind nicht die Laien, sondern die Pfarrer (kirchenleitenden Theologen), von ihnen soll die Veränderung ausgehen, in der Hoffnung auf Gottes Handeln

1. Teil: Diagnose:
Das geistliche Elend der drei Stände: Obrigkeit, Theologen, Laien So werden sich weder Juden noch Katholiken zum wahren evangelischen Glauben bekehren!

2. Teil: Prognose:
Biblisch ist klar: Das Judentum wird sich bekehren (Rm 11), Babel = die kath. Kirche wird fallen (Offb 18-19). D.h. wir gehen herrlichen Zeiten entgegen! Lasst uns Juden bekehren, Rom schwächen und die evangelische Kirche auf die Zukunft einstellen! (Das ist Postmillennialismus!)

3. Teil: Therapie: Reformprogramm:

  • Bibelvertiefung durch Collegia Pietatis nach 1.Kor 14

  • Allgemeines Priestertum = Förderung der Mitarbeit von Laien

  • Tatchristentum (praxis pietatis)

  • Weniger Religionstreitigkeiten

  • Theologiestudiums-Reform durch vorbildliche Mentor-Professoren und durch Collegia Pietatis

  • Erbaulichere Predigten

Die ersten beiden Aspekte werden durch Luther gedeckt, die anderen vier durch Arndt. Einige typisch lutherisch-orthodoxe Reformanliegen sind weggelassen: Kirchenzucht, Sonntagsheiligung, Staat und Kirche. Als Spener merkt, dass die Pfarrerschaft nur sehr zögerlich auf sein Reformprogramm eingeht, konzentriert er sich ab Sommer 1675 noch stärker auf die Idee, dass einzelne willige Pfarrer ihre Kerngemeinde in Collegia Pietatis sammeln. Er beruft sich dabei jetzt auf Luthers Vorrede zur deutschen Messe von 1526 und prägt die Formel einer „ecclesiola in ecclesia“ (Kirchlein in der Kirche). Genau dies ist die eigentliche Geburtsstunde des Pietismus: die Abkehr vom volkskirchlichen Konzept durch die Einführung von innerkirchlichen Gemeinschaften von ernsthaften Christen.


8. Die Frankfurter Zeit nach den Pia Desideria (1675 – 1686)

Das Frankfurter Collegium Pietatis wuchs immer mehr, so dass es 1682 vom Pfarrhaus in die Barfüßerkirche verlegt wurde. Bei 200-300 Teilnehmern nahm das persönliche Element natürlich immer mehr ab, so dass sich die Gründungsmitglieder des Collegiums um Johann Jakob Schütz immer mehr distanzierten und einen eigenen Kreis im Saalhof gründeten. Die Saalhofpietisten hielten sich vom kirchlichen Abendmahl fern, so dass Spener nach langem Ringen 1685 auch selbst den Kontakt zu ihnen abbrach. Bei aller Offenheit für Mystik und Kirchenkritik sah Spener immer seinen Platz in der Kirche! Über Frankfurt hinaus kam es in den ersten 10 Jahren nach Erscheinen der Pia Desideria nur zu wenigen kleineren Umsetzungsversuchen. Spener war hauptsächlich damit beschäftigt Angriffe abzuwehren.


9. Oberhofprediger in Dresden (1686 – 1691)

1686 bekommt Spener den Ruf auf die bedeutendste Stelle des Luthertums als Oberhofprediger in Dresden. Äußerlich waren die Jahre dort ein Misserfolg. Ein Collegium Pietatis kann er nicht gründen, die Pfarrerschaft bleibt distanziert und am Ende kommt es zu einem großen Streit mit dem Kurfürsten. Was aus dieser Zeit blieb sind vor allem drei Predigtbände Speners, die Einführung des Katechismusunterrichts im ganzen Land und vor allem der Kontakt zu August Hermann Francke, der 1689 an der Universität Leipzig dem Pietismus zum eigentlichen Aufstieg verhalf.


10. Propst in Berlin (1691 – 1705)

1691 war Spener froh Dresden zu verlassen und ging nach Berlin. Als Propst von St.Nicolai sorgte er für eine staatliche Armenfürsorge und gewann die politische Führungsschicht für den Pietismus. Die Pfarrerschaft blieb auch hier eher ablehnend. Ein Collegium Pietatis gründete er nicht selbst (nur ein biblisches Collegium mit Theologiestudenten), aber unterstützte es. Entscheidend in dieser Phase war die Gründung der neuen brandenburger Universität in Halle. Spener gelingt es durch geschickte Professorenberufungen Halle zum Zentrum des Pietismus zu machen. Am 5.2.1705 stirbt Spener in Berlin und lässt sich in weißen Kleidern und einem weißen Sarg als Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten beerdigen.


11. Bewertung Speners

  • Spener machte aus einer Arndtschen Frömmigkeitsbewegung eine kirchliche Reformbewegung

  • Spener führte die Theologie von philosophischer Bevormundung zurück zur Bibel

  • Die Betonung des allgemeinen Priestertums führte zu einer langanhaltenden Neubelebung des Gemeindelebens.

  • Damit passte sich das protestantische Christentum zugleich gut in den Indiviualisierungsschub der Aufklärung ein.

  • Spener konnte das Separations-Misstrauen nie richtig entkräften, weil er auch den Separatisten den lebendigen Glauben nicht absprechen wollte.

  • Spener hat kein Bekehrungserlebnis. Er steht noch ganz in der lutherischen Tradition, Anfechtungen auszuhalten. Erst bei Francke kommt es zum Durchbrechen im Gebetskampf. In dieser Bekehrungsfrage ist der Pietismus Francke statt Spener gefolgt!

  • Soteriologisch blieb Spener ganz in orthodoxen Bahnen, er verknüpfte nur Rechtfertigung und Wiedergeburt wieder stärker.

  • Spener gab damit dem Pietismus das Selbstbewusstsein, auf dem Boden der Reformation zu stehen und er hielt den lutherischen Pietismus innerkirchlich.

  • Spener gab dem Pietismus auch den Blick für die soziale Verantwortung mit auf den Weg.

  • Die Idee der Collegia Pietatis sollte in der Folgezeit der entscheidende Motor des Pietismus werden.

August Hermann Francke (1663-1727)

1. Die Jugendzeit in Lübeck und Erfurt

August Hermann Francke wird am 12.3.1663 in eine angesehene Juristenfamilie in Lübeck geboren. Als August 7 Jahre alt war, starb sein Vater und die Familie siedelte nach Erfurt über. Eine sehr fromme Großmutter übt einen prägenden Einfluss auf ihn aus. Mit zwölf Jahren liefert der Junge sein Leben Gott aus. Seine Lieblingslektüre sind Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum. Er ist hochbegabt und lernt schon vor dem Universitätsstudium Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, Latein, Hebräisch und Griechisch. Mit 16 beginnt er das Studium in Erfurt und geht nach einem Semester nach Kiel.


2. Francke in Leipzig

Nach einigen Studienjahren in Kiel und Hamburg geht Francke nach Leipzig, wo er seine Magisterarbeit über die hebräische Grammatik schreibt und nebenbei als Hebräischlehrer im Haus von Speners Schwiegersohn arbeitet. An der Universität gründet er ein Collegium philobiblicum, einen Kreis mit weiteren 7 Magistern, die sich regelmäßig in lateinischer Sprache wissenschaftlich über die Auslegung von Bibeltexten unterhalten. Im Frühjahr 1687 werden sie durch Spener selbst ausdrücklich darin ermutigt.


3. Franckes Bekehrung in Lüneburg 1687

Im Jahr 1687 geht Francke auf Veranlassung seines Onkels zur Vertiefung seiner biblischen Studien nach Lüneburg. Dort gerät er aus Anlass einer Predigtausarbeitung über Joh 20,31 in eine existenzielle Krise. Nach acht Jahren Theologiestudium scheint ihm sein Glaube unter den Fingern zu zerrinnen. Er zweifelt an der Echtheit seines Glaubens, der Existenz Gottes und am Absolutheitsanspruch des Christentums. Als er in dieser Situation Gott um Hilfe anfleht, erlebt er ganz plötzlich eine völlige Wandlung. Er wird überströmt von Freude und tiefem Vertrauen in Gott. „… denn wie man eine Hand umwendet, so waren alle meine Zweifel hinweg.“ Drei Jahre später veröffentlicht er einen Bericht über dieses Bekehrungserlebnis, der in der Folgezeit von vielen Pietisten als vorbildhaftes Modell für eine echte (plötzliche und datierbare) Bekehrung angesehen wurde. Franckes Bekehrung trägt dabei typisch neuzeitliche Züge. Er ist bewegt von der Anfechtung des Atheismus und vom Pluralismus der Religionen. Gewissheit erhält er durch eine persönliche Erfahrung.


4. Aufbruch in Leipzig

Nach seiner Rückkehr aus Lüneburg geht Francke 1689 zunächst für zwei Monate zu Spener nach Dresden. Hier bekommt seine Wiedergeburtserfahrung ein festes Fundament und kirchengeschichtlich gesehen übernimmt er direkt von Spener die Fackel des Pietismus. Danach kehrt er nach Leipzig zurück um an der dortigen Universität in neuem Geist und in deutscher Sprache biblische Vorlesungen zu halten. Francke bekommt riesigen Zulauf, während gleichzeitig die Hörsäle der orthodoxen Professoren gähnend leer bleiben. Franckes Freund Johann Caspar Schade hält sogar deutschsprachige Erbauungsstunden an der Universität, zu denen auch einfach Leute aus der Stadt in Massen strömen. Nun werden die Anhänger der neuen Bewegung zum ersten Mal „Pietisten“ genannt. Doch schon bald wird die pietistische Bewegung unterdrückt und die Dozenten werden aus der Stadt verwiesen. Francke selbst übernimmt ein Pfarramt in Erfurt und hält dort auch an der Universität zwei Vorlesungen. Nach anderthalb Jahren wird aber auch dort der Widerstand so groß, dass er im September 1691 Erfurt verlassen muss. Francke sucht in dieser Situation wieder den Kontakt zu Spener und wohnt und lehrt sieben Wochen lang bei ihm in Berlin.

5. Pfarrer in Glaucha

Durch Vermittlung Speners kann Francke dann an der neugegründeten Universität Halle einen Lehrstuhl für griechische und orientalische Sprachen besetzen. Daneben übernimmt er am 7.2.1692 ein Pfarramt in dem kleinen verarmten und verwahrlosten Dorf Glaucha bei Halle. Von den 200 Häusern des 800-Seelen-Dorfes sind 37 Gastwirtschaften. Nach zwei Jahren begann er 1694 damit, dass übliche donnerstägliche Almosenverteilen an die Armen mit einer viertelstündlichen Katechese im Pfarrhaus zu verknüpfen. Allmählich erkannte Francke, dass die Armut in seinem Dorf vor allem mit dem erschreckend geringen Bildungsstand zusammen hing, da es keine allgemeine Schulpflicht gab. Als er eines Tages eine größere Spende für die Armen erhielt, reifte in ihm der Entschluss, eine eigene Armenschule zu gründen. Er stellte einen Studenten an, der ab Ostern 1695 die armen Kinder täglich zwei Stunden unterrichtete. Die Idee schlug so ein, dass im Sommer des Jahres schon 50-60 (nicht nur arme!) Kinder zusammen kamen, die täglich fünf Stunden Unterricht erhielten.


6. Die Gründung des Waisenhauses 1695

Francke wurde vor allem berühmt durch die Gründung seines Waisenhauses und der daraus sich ergebenden „Glauchaschen Anstalten“, die seit Ende des 18.Jhs. „Franckesche Stiftungen“ genannt werden.

Zur Gründung kam es, weil Francke im Laufe des Jahres 1695 bewusst wurde, dass der tägliche Unterricht an den Kindern kaum Veränderungen bewirken konnte, wenn sie danach wieder in ihre verwahrloste Umgebung zurückkehrten. Deshalb sammelte er Spenden, kaufte im Oktober 1695 ein Haus in der Nachbarschaft, nahm 12 Waisenkinder auf und stellte den Theologiestudenten Georg Heinrich Neubauer als ihren Aufseher, Verwalter und Geschäftsführer ein. In der Folgezeit bot Francke armen Theologiestudenten kostenlose Essensversorgung im Waisenhaus, wenn sie dafür etwas mitarbeiteten. So hatte er einen großen Pool an preiswerten Lehrkräften.

Neben der Armenschule wurde schon ab Pfingsten 1695 ein Pädagogium eingerichtet, in dem Adelige und kommende Führungspersönlichkeiten auf ihre Laufbahn vorbereitet wurden. 1697 kam noch eine Gelehrtenschule dazu, die auf das Universitätsstudium vorbereitete. Dort wurden auch begabte Waisenkinder aufgenommen. Als die Räumlichkeiten nicht mehr ausreichten entschloss sich Francke zu einem großzügigen Neubau, der von 1698-1701 errichtet wurde.

Die Arbeit bekam nun viele staatliche Privilegien und Francke wurde 1698 auch zum Professor der Theologie ernannt.

Im Jahr 1701 verfasste Francke einen Bericht über die Entstehung der Anstalten mit dem Titel: „Die Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glauben“. Die Arbeit lebte durch den ständigen Zufluss von Spenden und blieb damit ein „Glaubenswerk“. Bei Franckes Tod 1727 lebten in den Glauchaschen Anstalten 2234 Kinder (wovon allerdings nur 137 Waisen waren) und 106 Lehrkräfte.


7. Franckes Pädagogik

In pädagogischer Hinsicht bieten die Franckeschen Anstalten ein ambivalentes Bild. Begabtenförderung und hohe Effizienz in der Vermittlung von Wissen und mancherlei Fähigkeiten, auch technischer Art, waren die eine Seite, pausenlose Beschäftigung und lückenlose Kontrolle die andere. Es gab kaum Prügelstrafen, aber die Nötigung zur permanenten Selbstkontrolle und sogar zur Denunziation. Muckertum wie auch Aufbegehren konnten sich aus einer solchen Erziehung ergeben, leistungsfähige Bürger produzierte sie, aber auch ebenso angepasste Untertanen.“ M. Greschat, Christentumsgeschichte II: Von der Reformation bis zur Gegenwart (Grundkurs Theologie Bd. 4; Stuttgart 1997) 101.

8. Die ersten evangelischen Missionare 1706

Als der vom Pietismus beeindruckte dänische König Friedrich IV. im Jahr 1704 beschloss mit der Mission unter den Heiden in seinen Kolonien zu beginnen, suchte er zwei dafür geeignete Männer und fand sie unter Franckes Theologiestudenten in Halle. Am 29.11.1705 wurden Bartholomäus Ziegenbalg (1682 – 1719) aus Pulsnitz und sein Freund Heinrich Plütschau (1677 – 1746) in Kopenhagen als erste lutherische (und erste deutsche) Missionare der Geschichte nach Südindien ausgesandt. Am 9.7.1706 kamen sie in Tranquebar an. Mit ihnen begann vor 300 Jahren die evangelische Mission in Asien. Plütschau musste schon bald krankheitshalber nach Deutschland zurückkehren, Ziegenbalg aber übersetzte das Neue Testament ins Tamilische und baute eine umfangreiche Missionsarbeit auf, Er starb nach 13 Jahren Missionsarbeit am 23.2.1719, doch die Arbeit der dänisch-hallischen Mission ging weiter. Allein in den ersten Jahrzehnten wurden 40.000 Einheimische getauft.


10. Die Gründung der deutschen Bibelanstalt 1710

Neben der Waisenhausarbeit fing das junge Werk schon bald an auch an, zur eigenen Versorgung Wirtschaftsunternehmen und Handwerksbetriebe an das Waisenhaus anzugliedern. So entstanden auch eine Apotheke und eine Buchdruckerei. Hier kam es 1710 durch die Initiative des Barons Carl Hildebrand von Canstein zur Gründung einer Gesellschaft zur massenhaften Verbreitung von günstigen Bibelausgaben. Erst dadurch wurde die Bibel in Deutschland zu einem echten Hausbuch.

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760)


1. Die Kindheit in Großhennersdorf (1700-1710)

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf wurde am 26.5.1700 in Dresden als erstes und einziges Kind seiner Eltern geboren, da sein Vater bereits sechs Wochen nach der Geburt verstarb. Seine Familie gehörte zum europäischen Hochadel und stammte ursprünglich aus Österreich. Der kleine Junge sollte Reichsgraf werden. Als seine Mutter Charlotte Justine von Gersdorf 1704 eine zweite Ehe in Berlin einging wurde der Junge zur Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf auf dem Schloss Großhennersdorf bei Zittau (heute im Dreiländereck D-PL-CZ) gegeben. Sie war ein hochgebildete Frau, sprach fließend Französisch, Italienisch und Latein, und konnte auch Griechisch, Hebräisch, Chaldäisch und Syrisch. Die Bibel wurde in den Ursprachen gelesen. Am kursächsischen Hof (dem zweitwichtigsten in Europa, nach den Habsburgern in Wien) in Dresden hatte sie weitreichenden Einfluss und pflegte viele Kontakte in die pietistische Welt. Auch Spener und Francke kamen zu Besuch. Hier entwickelte der kleine „Lutz“ eine tiefe kindliche Jesusliebe, die allerdings schon im Alter von 8 Jahren durch eine grundsätzliche Anfechtung ging, ob Gott überhaupt existiert. Immer wieder sollte Zinzendorf in seinem Leben durch solche Zweifel-Phasen gehen, die sich nicht verstandesmäßig lösten, sondern nur dadurch, dass er gegen allen Zweifel sein Vertrauen auf Jesus setzte.


2. Die Ausbildung am Pädagogium in Halle (1710-1716)

Nach der überaus behüteten Kindheit in Großhennersdorf (draußen wurde er z.B. nur getragen oder gefahren) wird Zinzendorf am 9.8.1710 von seiner Mutter auf das Franckesche Pädagogium in Halle gebracht. Er ist der erste Reichsgraf, der die Anstalt besucht, ist somit der berühmteste Schüler und darf deswegen bei den Mahlzeiten zwischen dem Ehepaar Francke sitzen. Zinzendorfs Charakter wird zunächst von seinen Erziehern sehr negativ beurteilt. Auch ihm selbst fällt die Zeit in Halle nicht leicht. Immer wieder reibt er sich an der ängstlich-strengen Atmosphäre. Dennoch nimmt er wertvolle Impulse in sein weiteres Leben mit. Besonders hat ihn die Begegnung mit den Missionaren Plütschau und Ziegenbalg beeindruckt. Von 1714 – 1716 gründete er mit einigen anderen adligen Jungen eine feste geistliche Gemeinschaft, den Senfkorn-Orden. Es kam zu Bekehrungen und zu einer kleinen Erweckung, so dass auch Francke und die Leitung des Pädagogiums ihm zum Abschied im April 1716 gewisse Sympathien entgegenbrachte.


3. Das Jura-Studium in Wittenberg (1716-1719)

Zinzendorf plante in den sächsischen Staatsdienst zu treten und studierte daher auf Drängen seiner Vormünder ab August 1716 Jura in Wittenberg, der Hochburg der lutherischen Orthodoxie. Hier bekannte sich Zinzendorf offen als „Pietist“ und beschäftigte sich neben dem Studium soviel wie möglich mit theologischen Fragen. Er versuchte, im theologischen Streit zwischen den Pietisten in Halle und den Orthodoxen in Wittenberg zu vermitteln, musste dann aber auf Veranlassung seiner Vormünder im April 1719 das Studium abbrechen.


4. Die Bildungsreise (1719-1721)

Im Mai 1719 begann Zinzendorf eine Bildungsreise. Seine erste Station war Frankfurt, das er wegen der Verbundenheit mit seinem (1705 verstorbenen) Patenonkel Spener sehen wollte. In Düsseldorf beeindruckte ihn ein Passions-Gemälde des italienischen Malers Domenico Feti (1589 – 1624) mit der Bildunterschrift: „Ego pro te haec passus sum. Tu vero, quid fecisti pro me?“ (Ich habe dies für dich gelitten -was tust du wahrhaftig für mich?), aufgrund dessen er sein Leben neu Jesus hingibt. Im niederländischen Utrecht und in Paris lernt Zinzendorf viele verschiedene christliche Gruppierungen kennen und er entdeckt, dass es in allen Konfessionen Christen gibt, die sich in tiefer Jesusliebe in der Bibel gründen und mit denen er herzliche geistliche Gemeinschaft haben kann.


5. Justizrat am Dresdener Hof (1721-1726)

Im Oktober 1721 nahm Zinzendorf eine unbezahlte Stelle im Staatsdienst als Justizrat am Dresdener Hof an. Er verstand es als Vorschule für ein späteres Regierungsamt. Am 7.9.1722 heiratete er die gleichaltrige Erdmuthe Dorothea Gräfin von Reuss-Ebersdorf (1700 – 1756) aus Thüringen. Sein Eheverständnis war sehr nüchtern und praxisbezogen. Vor der Hochzeit schrieb er ihr, dass er „sich nur nach einer solchen umsehe die einen Mann haben kann als hätte sie keinen, und die Jesum Christum über alles liebet.“ Erdmuthe war praktisch sehr begabt und wurde eine kompetente Managerin für die späteren vielfältigen Arbeitsbereiche ihres Mannes.

Im Mai 1722 erwirbt Zinzendorf von seiner Großmutter das Bauerndorf Berthelsdorf bei Zittau. Das jungvermählte Ehepaar zieht in das Berthelsdorfer Schloss, er stellt einen lutherischen Pfarrer für seine Kirche an und der Reichsgraf ist nun einer von 300 reichsunmittelbaren Landesherren in Deutschland. Das Amt am Dresdener Hof füllt Zinzendorf mit der Zeit immer weniger aus, so dass er immer mehr Zeit in Berthelsdorf verbringt, was vor allem an den vielen Menschen liegt, die nun nach Berthelsdorf ziehen.


6. Die Entstehung der Herrnhuter Brüdergemeine

Schon einen Monat nachdem Zinzendorf das Gut Berthelsdorf erworben hatte, ersuchten ihn einige mährische Glaubensflüchtlinge um Asyl. Zinzendorf erlaubt ihnen, sich auf dem Hutberg (der Berg auf die Tiere gehütet wurden) westlich von Berthelsdorf anzusiedeln. Schon bald deutete man dies als einen Ort, der „unter des Herrn Hut“ steht. Nach fünf Jahren bestand die Siedlung „Herrnhut“ dann schon aus 30 Häusern mit über 200 Bewohnern aus vielen verschiedenen Gegenden und Konfessionen. Dies führte schon bald zu tiefgreifenden Spannungen, so dass Zinzendorf sich ab 1724 immer weniger um sein Amt in Dresden und immer mehr um seine Gemeinde kümmerte. Im Jahr 1727 kam es zu einer tiefgreifenden Krise in Herrnhut, da einige Gruppierungen sich von der Berthelsdorfer Gemeinde separieren wollten. Am 13.8.1727 kommt es schließlich zum Durchbruch. Bei einem Abendmahlsgottesdienst in der Berthelsdorfer Kirche versöhnen sich die streitenden Parteien und schließen sich zur Herrnhuter Brüdergemeine zusammen. Auf dem Boden der lutherischen Theologie versuchten nun die Herrnhuter Siedlung und die alte Dorfgemeinde neue gemeinsame Formen geistlichen Lebens zu entwickeln.


7. Die Gemeinschaftsformen der Brüdergemeine

Die evangelischen Kirchen nach der Reformation wurden weitgehend einseitige Pastorenkirchen. Demgegenüber entwickelte Zinzendorf nun mit seinen Mitarbeitern eine Vielzahl von revolutionären Neuerungen. Am Anfang wurden in der Gemeine verschiedene so genannte Banden eingeführt. Das waren auf Sympathie und Freiwilligkeit beruhende Kleingruppen von 3-8 Leuten, in denen man sich gemeinsam sich auf dem Weg der Nachfolge bestärkte. Die Bandenführer dieser „Beichtgemeinschaften“ tauschten sich in wöchentlichen Bandenkonferenzen aus.

Neben diesen freiwilligen Gruppen wurden jedoch auch andere gemeinschaftsbildende Kreise errichtet. Zuerst versuchte Zinzendorf eine Einteilung der Gemeine in Klassen, die nach der geistlichen Reife und Erfahrung sortiert werden sollte. Doch dieses Experiment wurde bald verworfen. Zu sehr verführte es dazu, sich und andere ständig zu zensieren. Endgültig wurden dann die Chöre das beherrschende Gliederungsprinzip. Hier wurden Menschen nach natürlichen Gruppen eingeteilt, wie unverheiratete Brüder bzw. Schwestern, junge Ehepaare. u. a. Hier war die Möglichkeit zur offenen Aussprache und Seelsorge gegeben. Vor allem die (nach Geschlechtern getrennt) gemeinsam lebenden Chöre der Ledigen verstanden sich als intensive Dienstgemeinschaften in Diakonie und Mission. Zinzendorf hatte das Ziel, dass sein Dorf ein in alle Welt strahlendes Licht in Form eines großen collegium pietatis sein sollte.


8. Die Ämterstruktur in Herrnhut

Neben diesen Gruppeneinteilungen brachte Herrnhut bald eine Vielzahl von Ämtern hervor. Alle Gaben und Befähigungen in der Gemeine sollten auch genutzt werden. Damit aber niemand in den Ruf komme, er wolle sich nur hervortun, wurde er nach Möglichkeit mit einem Amt versehen. Der Phantasie waren dabei keine Grenzen gesetzt. Es gab Älteste, Lehrer, Helfer, Aufseher, Ermahner, Diener, Krankenwärter, Almosenpfleger, Wirtschaftsaufseher, usw. Diese Demokratisierung des Amtsgedankens band viele Christen in den gemeinsamen Dienst verantwortlich ein. Zinzendorf hatte lange Zeit das Vorsteher-Amt inne, bis man es 1741 feierlich Jesus Christus als Haupt und Ältesten übertrug. Hieraus stammt auch der Brauch, bei Mahlzeiten immer einen Platz für Jesus frei zu lassen.


9. Die Kreativität Herrnhuts

Nicht nur bei Ämtern, auch bei der Einrichtung neuer Gebräuche und Feiern ließ man der Kreativität freien Raum. Es wurden Fastentage und ein 24-Stunden-Gebet eingerichtet. Man begann sich täglich in den Häusern zu besuchen und dabei seit 1728 eine Tageslosung weiterzusagen. Ab 1729 werden diese Losungen schriftlich festgehalten und seit 1731 gedruckt um auch reisende Geschwister einzubeziehen (Heute erscheinen die Losungen in 46 Sprachen in Millionenauflage). Eine weitere bekannte Einrichtung wurden die Singestunden, in denen man nicht zur Belehrung, sondern zu Anbetung und Lobpreis des Herrn zusammenkam. Zinzendorf selbst dichtete über zweitausend Lieder, häufig auch spontan während solcher Singestunden. Wie bei solchen Gelegenheiten wurden künstlerische Begabungen gepflegt und für Jesus dienstbar zu machen gesucht. Weitere Feiern wurden eingeführt. So wurde der altkirchliche Brauch der Liebesmahle wieder eingeführt, bei denen die ganze Gemeine zu einem festlichem Essen mit viel Gesang und Gebet zusammenkam. Verschiedene Jahrestage der Brüdergemeine wurden zu Festtagen, auch Gebräuche wie Fußwaschungen wurden regelmäßig praktiziert. Insgesamt hatte Zinzendorf das Ideal eines liturgischen Lebensstils. Alle falsche Trennungen von geistlichen und weltlichen Lebens sollten vermieden werden, stattdessen sollten möglichst viel Lebensvollzüge in eine geistliche Perspektive eingebettet sein. Liturgisch hieß für Zinzendorf daher soviel wie unter ständigem Aufblick zu Jesus. Von allen Sachen, sie haben Namen, wie sie wollen, wünsche ich, dass ein liturgischer Geist drein komme Konsequent wurde sie bezogen auf die Arbeitswelt, auf die Eheführung (mit manchen fragwürdigen Ausprägungen), bis hin zum liturgischen Einschlafen und Aufwachen.


10. Von Herrnhut nach Herrnhag

Ab 1731 verstärkte sich der staatliche Widerstand gegen die Entwicklungen in Berthelsdorf. Vor allem wegen der Aufnahme glaubensfremder Flüchtlinge kam Zinzendorf in Rechtskonflikte, die im März 1736 zu seiner Ausweisung aus Sachsen führten. Seine Güter musste Zinzendorf seiner Frau übereignen. Die Herrnhuter Brüdergemeine selbst wurde überprüft und durfte bestehen bleiben, sich aber nicht über Herrnhut hinaus weiter ausbreiten. In dieser Zeit legte Zinzendorf noch ein theologisches Examen ab und bekam in Tübingen die Zulassung für das geistliche Amt. Zinzendorf verstand sich nun als umherziehender Pilger bis er schließlich in der hessischen Wetterau die Gemeinden Marienborn (1736) und Herrnhag (1738) gründen konnte, die mit der Zeit größer wurden als Herrnhut selbst. In Marienborn wurde er 1737 auch zum Bischof der Brüder-Unität ordiniert.


11. Die Missionsarbeit

Von Beginn an betonte Zinzendorf den Sendungsaspekt seiner Arbeit. Die in Herrnhut erlebte Gemeinschaft im heiligen Geist sollte in alle Welt getragen werden. Schon 1727 wurden Brüder nach Jena und Dänemark geschickt, 1728 nach London. Im Jahr 1732 sandte man dann die ersten Heiden-Missionare auf die karibische Insel St.Thomas um schwarzen Sklaven das Evangelium zu bringen. Herrnhuter evangelisieren unter Sklaven, Eskimos, Hottentotten und Indianern. Oft durchs Los bestimmt gehen Herrnhuter Brüder und Schwestern meist spärlich ausgebildet in 28 Missionsgebiete. Bis 1760 werden 200 Herrnhuter Missionare ausgesandt, ihre Zahl übertrifft die Halleschen Missionare bald um ein Vielfaches. Durch den Verzicht auf eine konfessionelle Prägung und die Unabhängigkeit von Kolonialmächten hatten die Herrnhuter Missionsgründungen eine große Ausstrahlung. Zinzendorf selbst verbrachte viele Jahre auf den Missionsfeldern, wo er oft für großes Aufsehen sorgte. So begrüßte er als Reichsgraf eine Christ gewordene schwarze Sklavin mit einem Handkuss. Er lebte mit Indianern zusammen und war tief beeindruckt von der Ursprünglichkeit ihres Lebens. Anfang der vierziger Jahre versucht Zinzendorf viele der ihn beeindruckenden Erscheinungen eines ursprünglichen Lebensstils auch in seinen Gemeinden wieder zur Geltung zu bringen, womit er maßgeblich den Überschwang der Sichtungszeit einleitet. Doch deutlich wird hier, dass die Missionspraxis nicht zur Einbahnstraße wurde, sondern auch Anregungen nach Deutschland brachte. Die Missionsarbeit führte dazu, dass die Brüder-Unität heute 762.000 Mitglieder in 30 Ländern umfasst.


12. Die Sichtungszeit in Herrnhag und die letzten Lebensjahre

Zinzendorf sah in den neuen englischen Kolonien Nordamerikas die eigentlich Zukunft, weil dort Glaubens- und Gewissensfreiheit herrschte. Er besuchte 1738 St. Thomas und 1741 Pennsylvanien. Die dortige Brüdersiedlung Bethlehem wurde ein starker Stützpunkt für die Herrnhuter. Nach seiner Rückkehr aus Amerika entließ er ältere Mitarbeiter und setzte Jugendliche in Führungspositionen. In bewusstem Gegensatz zur vernunftbetonten Aufklärung und zum strengen hallischen Pietismus versuchte Zinzendorf jetzt die unmittelbare kindliche Erlösungsfreude in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu führte er viele Verkleinerungsformen in den Sprachgebrauch ein (Lämmlein, Sünderlein usw.). Die Jesusliebe wurde mit einer Konzentration auf die Wunden Jesu verbunden, so dass es einen regelrechten Kult um „Jesu Seitenhöhlchen“ gab, in das der Christ im Glauben liebevoll hineinkriecht. Beispiel: „Für Wunden-Würmelein verliebt in seine vier Nägelein, für Kreuz-Luft-Vögelein, kränkelnd vor Liebespein nach Jesu Seitenschrein. Seid Kreuz-Luft-Vögelein und Täucherlein, fahret ins Loch hinein, das ihm der Speer geritzet?“ (Brüdergesangbuch Jahrgang 1746).

Nachdem Zinzendorf im Frühjahr 1748 aus Herrnhag zu einer Reise aufgebrochen war, glitt die Gemeinde unter der Führung seines Sohnes in immer skurilere Extreme ab. Teilweise hielt man das 1000-jährige Reich für verwirklicht, so dass Zinzendorf selbst im Februar 1749 eingreifen musste. Dies konnte aber nicht mehr verhindern, dass 1750 alle fast 1000 Bewohner Herrnhags ausgewiesen wurden. Zinzendorf interpretierte diese Jahre in Herrnhag später als eine „Sichtung des Satans“. Zinzendorf selbst durfte seit 1747 Herrnhut Herrnhut wieder betreten. Er blieb aber weiterhin viel auf Reisen, und wohnte ab 1750 meist in London, ab 1755 dann wieder in Herrnhut. Nach dem Tod seiner Frau 1756 heiratete er noch seine langjährige Mitarbeiterin Anna Nitschmann, bevor er am 9.5.1760 in Herrnhut starb.


13. Theologische Grundlinien Zinzendorfs

13.1. Gegen die Moralisierung des Christentums durch die Aufklärung

Was ist denn die Hauptsumme des Evangeliums, wonach man vor allem Dingen zu fragen und alle Gemeinschaft im Geistlichen darauf zu gründen hat? Das nenne ich, nach meiner persönlichen Art mich auszudrücken, die persönliche Konnexion mit dem Heilande

In einer Zeit, da aller persönlicher Glaube sich immer mehr verflüchtigte und zur Tugendreligion der Aufklärung wurde, sah Zinzendorf mit größter Leidenschaft die Beziehung zu Jesus Christus als Zentrum seines Lebens und seine Gemeinde. Eine rein rationale Erkenntnis der Existenz Gottes im Sinne der Aufklärung hielt er für gefährlich: „Wer Gott im Kopfe weiß, der wird Atheist!“. Christsein verwirklicht sich nur in der persönlichen Beziehung zu Jesus: „Ohne Jesus wäre ich Atheist!“


13.2. Gegen die Gesetzlichkeit des Franckeschen Pietismus

Zinzendorf verwarf den Bekehrungsmethodismus, der nur eine bestimmte Art von Bekehrung als Zeichen echten Christseins anerkennen wollte. Ebenfalls wurde eine einseitige Bußfrömmigkeit abgelehnt, die den Kampf mit der eigenen Sündhaftigkeit und moralische Anstrengung ins Zentrum des Glaubens setzt. Demgegenüber griff Zinzendorf wie kein anderer bedeutender Pietist nachdrücklich auf Luther zurück und betonte den Glauben an Christus als Ursprung des neuen Lebens.


13.3. Gegen die Zurückgezogenheit des radikalen Pietismus

Gegenüber Vertretern des radikalen Pietismus führte die Losung „Jesus allein“ aber auch zu einem fröhlichem Handeln aus dem Glauben, der nicht zu einem passiven Quietismus werden darf.


13.4. Gegen das Vollkommenheitsstreben des Methodismus

Zinzendorf lehnte jede Hoffnung auf Vollkommenheit der Gläubigen von Luther her ab. Im Streit mit John Wesley betonte Zinzendorf nachdrücklich das lutherische simul justus et peccator. Der Mensch könne nicht durch gewissenhafte Heiligung eine Vollkommenheit und Sündenfreiheit auf Erden erreichen. Vielmehr bleibe allein Christus die vor Gott gültige Gerechtigkeit.


13.5. Gegen Endzeitspekulationen der Württemberger

Sein Christozentrismus ließ ihn aber auch Abstand halten zu heilsgeschichtlichen Spekulationen, wie er sie etwa bei Johann Albrecht Bengel bemerkte. Während dieser ihm vorwarf, durch sein Losverfahren den Zusammenhang der Schrift zu zerstören, wollte Zinzendorf das Evangelium von Christus nicht in falsche Systeme pressen.


13.6. Für die Unverzichtbarkeit der Gemeinschaft

„Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft“. So wie der Glaube nicht nur als graue Theorie gelebt werden kann, sondern der persönlichen Beziehung bedarf, so ist er auch auf die Verwirklichung in einer konkreten Gemeinde angewiesen. Zinzendorf bejahte durchaus den Trend zu seiner Zeit zu immer stärkerer Individualisierung. Der Glaube will persönlich angeeignet werden, und dabei die Persönlichkeit des Christen nicht verdrängen, sondern entfalten. Gerade dazu braucht jeder Einzelne aber auch die Hilfe und die Korrektur von Brüdern und Schwestern. „Eine Gemeine ist der einzige Beweis gegen den Unglauben“.


13.7. Für eine konfessionsübergreifende Zusammenarbeit aller, die Jesus lieb haben

Früh vertrat Zinzendorf eine Ökumene derer, die Jesus Christus nachfolgen. Die Einheit der Kirche sah er im Versöhnungsopfer Jesus als schon gegeben an, so dass sie nicht erst durch äußere Unionen herbeigeführt werden musste. Er entwickelte später seine so genannte Tropenlehre aus dieser Grundhaltung. Demnach ist jede Konfession nur eine von vielen unterschiedlichen Erziehungsweisen (tropoi paideiav) Gottes. Die Brüdergemeine sollte nicht eine neue Konfession werden, sondern in verschiedenen Konfessionen eine Ausrichtung auf die Mitte Jesus Christus bewirken. Alle großen Konfessionen haben ein besonderes Charisma, aber auch eine besondere Gefährdung. Zinzendorf sah seine Brüdergemeine jedoch vor allem in der lutherischen Konfession verwurzelt


13.8. Für eine klare Unterscheidung der Geister

Neben aller Offenheit für Mitchristen aller Schattierungen gab es auch Grenzen der Gemeinschaft. Zinzendorf bemühte sich sein ganzes Leben um allerlei Querdenker, vor allem in der Auseinandersetzung mit der charismatischen Inspiriertengemeinde um Friedrich Rock. Hier begegnete Zinzendorf einer enthusiastischen Frömmigkeit, die sich im Umfallen, Zittern, Prophetien und vielleicht auch Zungenrede ausdrückte. Zinzendorf hatte großen Respekt vor Rock, und wollte solche Phänomene nicht ungeprüft verwerfen. Mit der Zeit jedoch wurde der Graf zunehmend skeptisch, bis es zum Bruch mit Rock kam. Als zunehmend unbiblische Praktiken mit göttlicher Vollmacht erklärt wurden, ging Zinzendorf auf Distanz. In der späteren Sichtungzeit (1743 – 1750) bewies man am Ende, dass man auch realistisch genug war, die eigene Fehlbarkeit selbst bei besten Absichten zu sehen.


14. Der weitere Weg Herrnhuts

Nach Zinzendorfs Tod 1760 wurde die Brüdergemeine von August Gottlieb Spangenberg weitergeführt. Er prägte die Gemeinschaft zu dem, was sie heute noch auszeichnet: „Die Stillen im Lande, die durch eine hohe menschliche Kultur und erzieherische Weisheit ein Vorbild christlicher Bescheidenheit und Nächstenliebe geben und persönliche Schlichtheit mit theologischer Tiefe sowie ökumenischer Weite vereinigen.“ (M.Schmidt, 108) Den Herrnhutern gelang es, den schlichten Bibelglauben und die tiefe Jesusliebe durch die Zeit der Aufklärung hindurch zu bewahren. Im 19.Jh. wuchsen einflussreiche Persönlichkeiten wie Novalis oder Kierkegaard in herrnhutischer Frömmigkeit auf. Auch Schleiermacher verstand sich als „Herrnhuter höherer Ordnung“. Der herrnhutische Geist gab der Erweckungsbewegung des 19.Jahrhunderts wichtige Impulse.

Die Äußere Mission im Pietismus des 18. Jahrhunderts


Die Dänisch-Hallische Mission

Der sich seit 1675 ausbreitende Pietismus sorgte mit seiner Betonung der persönlichen Glaubensentscheidung auch dafür, dass im Protestantismus das Bewusstsein wuchs, einzelne Seelen retten zu wollen. König Frederik IV. von Dänemark war Pietist und wollte für seine überseeischen Besitzungen in Tranquebar (Indien), Guinea (Afrika) und St.Thomas (Karibik) gerne pietistische Missionare haben (anstatt dänisch-lutherische Pfarrer). So wurden Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau 1706 ausgewählt und nach Tranquebar ausgesandt. Ziegenbalg übersetzte das Neue Testament ins Tamilische und baute eine umfangreiche Missionsarbeit auf, Er starb nach 13 Jahren Missionsarbeit am 23.2.1719, doch die Arbeit der dänisch-hallischen Mission ging weiter. Allein in den ersten Jahrzehnten wurden 40.000 Einheimische getauft.
Schon Francke erkannte, dass die Mission eine Infrastruktur brauchte. So sammelte er Freundeskreise unter den erweckten Pietisten, ließ Briefe von Ziegenbalg veröffentlichen (erste kontinentale Missionszeitschrift „Merkwürdige Nachrichten aus Ostindien“), sammelte Kollekten für die Mission und initiierte Gebetskreise. Freiwillige Missionskreise und nicht die offizielle Kirche unterstützten die Mission. Diese grundsätzliche Struktur hat sich bewährt bis heute.
Später weitete sich die Missionsarbeit der deutschen Missionare auch auf das Gebiet der englischen Besitzungen unter den Tamilen aus. Der berühmteste Missionar dieser Zeit wurde Christian Friedrich Schwartz (1724 – 1798). Die dänisch-hallische Mission zerbrach dann durch die Aufklärung an der Universität Halle. Die Reste der Arbeit wurden 1837 von der Leipziger Mission übernommen.

Wegweisend für die weitere Missionsgeschichte wurden folgende Prinzipien:

  • Kirche und Schule gehören zusammen (Schulung von Einheimischen zum Lesen)

  • Primat der Übersetzung der Bibel, damit das Evangelium wirklich verstanden wird

  • Die Predigt des Evangeliums muss sich auf eine genaue Kenntnis der Kultur und Gedankenwelt des Volkes gründen.

  • Das Ziel ist die persönliche Bekehrung Einzelner

  • So früh wie möglich müssen einheimische Pastoren ausgebildet werden.


Die Missionsarbeit der Herrnhuter

Von Beginn an betonte Zinzendorf den Sendungsaspekt seiner Arbeit. Die in Herrnhut erlebte Gemeinschaft im heiligen Geist sollte in alle Welt getragen werden. Schon 1727 wurden Brüder nach Jena und Dänemark geschickt, 1728 nach London. Im Jahr 1732 sandte man dann die ersten Heiden-Missionare auf die karibische Insel St.Thomas um schwarzen Sklaven das Evangelium zu bringen. Herrnhuter evangelisierten unter Sklaven, Hottentotten und Indianern. 1733 gingen zwei herrnhutische Missionare nach Grönland, wo durch die Missionsarbeit des norwegischen Lutheraners Hans Egede der Boden schon vorbereitet war. 1738 brach hier eine Erweckung unter den Eskimos aus.
Oft durchs Los bestimmt gehen Herrnhuter Brüder und Schwestern meist spärlich ausgebildet in 28 Missionsgebiete. Dort lebten sie mit den Heiden und mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ziel waren vor allem unterdrückte und versklavte Volksgruppen. Bis 1760 wurden 200 Herrnhuter Missionare ausgesandt, ihre Zahl übertraf die Halleschen Missionare bald um ein Vielfaches. Durch den Verzicht auf eine konfessionelle Prägung und die Unabhängigkeit von Kolonialmächten hatten die Herrnhuter Missionsgründungen eine große Ausstrahlung. Zinzendorf selbst verbrachte viele Jahre auf den Missionsfeldern, wo er oft für großes Aufsehen sorgte. So begrüßte er als Reichsgraf eine Christ gewordene schwarze Sklavin mit einem Handkuss. Er lebte mit Indianern zusammen und war tief beeindruckt von der Ursprünglichkeit ihres Lebens. Die Missionsarbeit führte dazu, dass die Brüder-Unität heute 762.000 Mitglieder in 30 Ländern umfasst.


Die Missionsprinzipien der Herrnhuter waren:

  • Christozentrismus. Jesus und seine Liebe sollten im Mittelpunkt der Verkündigung stehen.

  • Gründung von Auswahlgemeinden. Zinzendorf wollte nur Erstlinge aus allen Völkern gewinnen. Die Bekehrung ganzer Völker erwartete er erst für das Tausendjährige Reich. Vielfach kam es aber dennoch aus kulturellen Gründen zu ganzen Stammesbekehrungen, so dass die Vision verändert werden musste.

  • Risikobereitschaft: Das Motto der Herrnhuter lautete: „Besser hundert und vergebliche als keine Unternehmungen zur Ehre des Heilands!“


Fazit

Aus missionsgeschichtlicher Sicht gilt das 18.Jahrhundert als die Zeit der Anstöße und ersten Aufbrüche. Es sind noch keine großen Zahlen vorzuweisen, aber es entstehen zukunftsweisende Strukturen, vor allem die ersten Missionsgesellschaften als freie Vereine, die durch Spender getragen werden. Die größte Zahl und die bedeutendsten Missionare sind Deutsche. Alles in allem hätte aber um 1800 niemand gedacht, dass sich Christentum zu einer Weltreligion entwickeln könnte. Noch gab es nur vereinzelte bekehrte Heiden, 99 % der Christen waren Europäer (bzw. europäische Einwanderer in Nordamerika) aber gerade in Europa leerten sich die Kirchen durch die Einflüsse des Rationalismus und der Aufklärung.

Die Erweckungsbewegung

Vorläufer der Erweckungsbewegung


1. Die Zeitsituation

Gegen 1730 verliert der Pietismus langsam seine gesellschaftlich prägende Vorrangstellung. Die Aufklärung setzt sich immer mehr durch und bestimmt das allgemeine Bewusstsein. Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts gehen die Besucherzahlen der pietistischen Gemeinschaften immer mehr zurück. Seit 1770 bestimmen Vernunft und Philosophie deutlich stärker die öffentliche Meinung als die frommen Kreise. Diese gibt es zwar immer noch, aber sie ziehen sich als die „Stillen im Lande“ (Ps 35,20) zurück. Ab 1780 beginnen die erwecklichen Kreise sich langsam wieder stärker in Organisationen oder um einzelne prägende Persönlichkeiten zu formieren. Durch diese Vorläufer entsteht eine Saat, die dann um 1830 die deutsche Erweckungsbewegung auslöst. Gefördert wird dies durch die sich langsam ausbreitende Romantik, die mit ihrem Sinn für das Irrationale auch das Ansehen der Frommen wieder begünstigte.


2. Die Herrnhuter Diaspora-Arbeit

Die Herrnhuter widerstehen den Einflüssen von Rationalismus und Aufklärung und führen auch nach Zinzendorfs Tod im Jahr 1760 ihre Missionsarbeit fort. Auch in Deutschland werden überall Kreise gesammelt, denen durch ermutigende Missionsberichte der Horizont geweitet wird. Reiseprediger besuchen in der Herrnhuter Diaspora-Arbeit auch in entlegenen Gegenden Deutschlands einzelne verstreute Gläubige und kleine Gruppen.


3. Die Deutsche Christentumsgesellschaft

Der Augsburger Pfarrer Johann August Urlsperger (1728-1806) muss 1776 aus gesundheitlichen Gründen sein Pfarramt aufgeben. Ihm ist es aber ein großes Anliegen, etwas gegen den glaubenszerstörenden Geist der Aufklärung zu unternehmen. Dazu möchte er am liebsten eine Art Apologetischer Zentrale gründen. Schließlich findet er in Basel einige Verbündete, mit denen er 1780 die Deutsche Christentumsgesellschaft gründet. Zunächst kümmert man sich darum, preisgünstige pietistische Literatur zu verbreiten und Kontakte zu den verstreuten Stillen im Lande aufzubauen, später traten dann Mission und Diakonie in den Vordergrund. Besonders durch Karl Friedrich Adolf Steinkopf, der von 1795 – 1801 als Sekretär der Christentumsgesellschaft wirkte, entstanden intensive Beziehungen auch zur englischen Erweckungsbewegung.


4. Christian Friedrich Spittler (1782-1867)

Spittler stammt aus Württemberg und entscheidet sich, nicht wie sein Vater Pfarrer zu werden. Nach einer kurzen Tätigkeit als Stadtschreiber wird er 1801 Steinkopfs Nachfolger als Sekretär der Deutschen Christentumsgesellschaft. Mit tiefem Glauben und großem Organisationstalent gründete er eine Vielzahl von bedeutenden Werken der Inneren und Äußern Mission. Am bedeutendsten wurde die 1833 gegründete Pilger-Missions-Gesellschaft, mit der zunächst fromme Handwerksgesellen als wandernde Missionare durch Europa geschickt wurde. Man merkte bald, dass die jungen Männer vor ihrer Aussendung eine theologische Grundausbildung benötigten, so dass Spittler in der St. Chrischona-Kirche in Basel ein Missionsausbildungszentrum aufbaute, das bis heute besteht.


5. Heinrich Jung-Stilling (1740-1817)

Heinrich Jung nannte sich später Stilling, weil er sich zu den Stillen im Lande zählte. Er wuchs in einem vom Pietismus beeinflussten Elternhaus im Siegerland auf und studierte dann Medizin in Straßburg, wo er mit Goethe und Herder Freundschaft schloss. Neben seiner Tätigkeit als Augenarzt wird er zum meistgelesenen Erbauungsschriftsteller seiner Zeit. Das Leben ist für ihn eine Wanderung durch viele Anfechtungen bis zur himmlischen Herrlichkeit: „Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen!“


6. Johann Kaspar Lavater (1741 – 1801)

Lavater war reformierter Pfarrer in Zürich. Er war ein weltoffener, hochgebildeter Theologe, Pädagoge und Politiker. Er hatte Kontakte zu Goethe und Herder, schrieb Kirchenlieder, malte über 22.000 Porträts zu wissenschaftlichen Studien und versuchte zwischen Pietismus und Aufklärung zu vermitteln.


7. Johann Friedrich Oberlin (1740 – 1826)

Der gebürtige Straßburger übernahm 1767 das lutherische Pfarramt in dem entlegenen und heruntergekommenen Steintal in den Vogesen. Ihm gelang es, dort bis zu seinem Tod eine blühende Infrastruktur aufzubauen (Straßen, Brücken, Schulen, Sparkasse, Textilindustrie). Er hatte den Grundsatz: „Nichts ohne Gott, alles für den Heiland!“ Er war ein tiefer Seelsorger und Missionsförderer und diente auch den Katholiken und Reformierten in seiner Gegend in gleicher Weise. Wie viele seiner frommen Zeitgenossen spekulierte auch er gerne über Jenseitsfragen. Seine früh verstorbene Frau erschien ihm angeblich neun Jahre lang danach immer wieder um ihm Trost und Rat zu erteilen.

Die deutsche Erweckungsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Nachdem der Barockpietismus um Spener, Francke und Zinzendorf gegen 1730 seinen Höhepunkt überschritten hatte, nahm die geistliche Bewegung in Deutschland immer mehr ab. An vielen Orten zogen sich die Pietisten als die „Stillen im Lande“ zurück, auch wenn vereinzelt prägende Persönlichkeiten das geistliche Feuer wach hielten.

Die französische Revolution 1789 und die Auflösung des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ 1806 durch Napoleon erschüttern viele Menschen in Deutschland. Unterstützt durch eine allgemein stärker werdende romantische Offenheit für das Übersinnliche entstehen nach der politischen Neuordnung Europas im Wiener Kongress 1815 in vielen deutschen Gegenden Erweckungsherde. Es kommt zu einem allgemeinen geistlichen Aufbruch, der um 1830 seinen Höhepunkt erreicht und dann wieder etwas abflaut. Die Ausläufer führen aber zu einer langfristigen Neubelebung vieler Landeskirchen und bilden die Grundlage für die dann um 1890 entstehende Gemeinschaftsbewegung, die als nächster erwecklicher Aufbruch in Deutschland gilt.

Da Deutschland um 1815 noch kein Nationalstaat war, sondern aus einer Vielzahl von Territorien bestand, entwickelte sich auch die Erweckung nicht als gesamtdeutsche Bewegung, sondern in sehr unterschiedlichen regionalen Formen.

  1. Allgäu - Eine der ersten Erweckungen in Deutschland finden wir im Allgäu. Im Gegensatz zu allen anderen Erweckungsgebieten spielte sie sich innerhalb der katholischen Kirche ab. Beeinflusst von dem katholischen Bischof Johann Michael Sailer (1751-1832) versammelten sich seit 1794 Priester im Seeger Kreis und entwickelten einen evangelischen Rechtfertigungsglauben. Zu diesem Kreis gehörte Martin Boos (1762-1825) und Johann Baptista Gossner (1773-1858). Die Erweckung griff bis nach München über und wurde durch Kontakte zu anderen Erweckungsgebieten vertieft.

  2. Württemberg - Württemberg war seit Bengel und Oetinger schon vielfältig erwecklich geprägt. Um 1826 kam es dann zu einem neuen Aufbruch durch den jungen Pfarrer Ludwig Hofacker (1798-1828), der in nur zwei von Krankheiten gezeichneten Jahren bis zu seinem frühen Tod eine starke Bewegung auslöste. Eine große Bußbewegung entstand auch durch die Verkündigung von Johann Christoph Blumhardt (1805-80) der als Pfarrer von Möttlingen einen jahrelangen Kampf um das Heil und die Heilung der Frau Gottliebin Dittus führte und dann ab 1852 in Bad Boll ein geistliches Sanatorium führte. Er dichtete das Lied: „Das Jesus siegt bleibt ewig ausgemacht!“

  3. Baden - In der katholischen Dorfgemeinde im Wurmtal südlich von Pforzheim wirkte der Priester Aloyis Henhöfer (1789-1862). Unter dem Einfluss der Allgäuer Erweckung bekehrte er sich in jungen Jahren zum Evangelium und verließ mit seiner gesamten Gemeinde die katholische Kirche. Auch Henhöfer wandte sich immer wieder gegen den toten Rationalismus seiner Tage und predigte die Gnade Gottes. Der Fabrikant Carl Mez aus Freiburg hat ebenfalls die Erweckung in Baden unterstützt und später auf Elias Schrenk gewirkt, den er in seiner Firma anstellte.

  4. Franken - In Nordbayern konnte sich die Erweckungsbewegung zuallerst festsetzen. Von Nürnberg und Erlangen aus wirkten viele Pfarrer und Prediger im erwecklichen Sinne. Der reformierte Theologieprofessor Christian Krafft (1784-1845) sammelte die Erlanger Kreise um sich. Zunächst arbeiteten in diesen Kreisen Lutheraner, Reformierte, Herrnhuter und Katholiken zusammen, später wurde die Erweckung jedoch unter Wilhelm Löhe (1808-72) und seinem Zentrum in Neuendettelsau streng lutherisch. Die gesamte Landeskirche in Bayern stellte sich geschlossen zu Luther und seiner Theologie, besonders unter dem Oberkonsistorialpräsident Adolf Harleß (1806-79). Neben der starken missionarischen und diakonischen Ausprägung der Kirche entwickelte sich an der Universität Erlangen eine beispiellose Schule erwecklicher Theologie, die so genannte Erlanger Theologie (Hofmann, Frank, Delitzsch, Zahn, Ihmels, Elert, Althaus, usw.).

  5. Hessen - In Hessen kam es zu keiner wirklichen Erweckungsbewegung. In Marburg wirkte der Theologe August Vilmar (1800-68), der sich vehement gegen den Rationalismus und seine Bibelkritik wandte. Aber auch seine Theologie blieb im lutherischen Konfessionalismus stecken und brachte keine wirkliche geistliche Erneuerung.

  6. Siegerland - In Verbindung mit der Erweckung im Wuppertal stand auch die siegerländische Erweckung, angestoßen durch den Tersteegianer Heinrich Weisgerber und dem Gerbermeister Tillmann Siebel (1804-75). Auch Weisgerber und Siebel waren echte Originale in ihrer Verkündigung. Die bekehrten Kreise schlossen sich in Gemeinschaften zusammen, welche durch Reiseprediger versorgt wurden. Der Siegerländer Gemeinschaftsverband einte so die zerstreut lebenden Neubekehrten. Er ging später in die Gemeinschaftsbewegung ein.

  7. Niederrhein und Wuppertal - Der Niederrhein war schon seit Tersteegens Zeiten stark pietistisch beeinflusst. In Kaiserswerth bei Düsseldorf gründete Theodor Fliedner mit seiner Frau 1836 das erste deutsche Diakonissenhaus! Der Schwerpunkt der Erweckung verlagerte sich aber nach dem Wuppertal, einem Ort von verschiedenen religiösen Gegensätzen. Besonders die dortige reformierte Gemeinde unter der Verkündigung von Gottfried Daniel Krummacher (1774-1837) und Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803-75) wuchs rasch durch die Verkündigung der freien Gnade im reformierten Sinne. Aber auch manche Freikirchen nahmen im Wuppertal ihren Anfang. Carl Brockhaus (1822- 99) gründete gegen 1850 die deutschen Brüderversammlungen, Hermann Heinrich Grafe 1854 die Freien evangelischen Gemeinden.

  8. Minden-Ravensberg - Die Erweckungsbewegung beeinflusste auch ärmere Bevölkerungsschichten. Hierfür steht die Erweckung von Minden-Ravensberg, die durch den Pastor Johann Heinrich Volkening (1796-1877) angestoßen wurde. Auch Volkening versuchte, als einflussreicher Kirchenmann die Kanzeln seines Bezirkes mit gläubigen Pfarrern zu besetzen, was ihm auch bald gelang. Er legte Wert auf die Ausbildung von Posaunenchören. Seit Leitvers lautete: „Gerettetsein gibt Rettersinn.â€?

  9. Bremen - Ein weiteres Zentrum der Erweckung wurde die Stadt Bremen. Hier wirkte der reformierte Pastor Gottfried Menken (1768-1831). Menken wurde durch seine scharfe Kritik an der Aufklärung und der Französischen Revolution bekannt. Er konnte ausrufen: „Alle Revolutionen sind gegen das Reich Gottes.“ In der Aufklärung konnte er nur einen Kult der Menschenvergötterung erkennen. Seine Antwort war ein ausgeprägter Biblizismus mit der Überzeugung von der Irrtumslosigkeit des Gotteswortes.

  10.  Hamburg — Hier kam es nicht zu einer durchgreifenden Erweckungsbewegung, trotzdem wurde die Stadt von kleinen Konventikelkreisen im erwecklichen Sinne geprägt. Matthias Claudius und sein Schwiegersohn Friedrich Christoph Perthes konnten ebenso eine kleine Schar um sich sammeln wie Johann Gerhard Oncken, der Vater des deutschen Baptismus. Innerhalb der Landeskirche in Hamburg war auch der Pfarrer Rautenberg durch die Erweckungsbewegung angestoßen worden, eine erste Sonntagschule zu gründen. Auch der Vater der inneren Mission, Johann Heinrich Wichern, kam aus Hamburg. Er sah die Not der Großstädte und plädierte für soziale Hilfen der Kirchen. Die Gründung des „Rauhen Hauses“ bildete den Anfang für viele andere missionarisch-diakonische Bemühungen der Inneren Mission.

  11. Schleswig-Holstein - Auslöser der Erweckung wurde hier der so genannte Emkendorfer Kreis um die Gebrüder Reventlow. Sie wollten der Aufklärung an der Universität in Kiel widerstehen und setzten sich für die Berufung eines bibeltreuen Theologen ein. 1814 wurde dann August Twesten als theologischer Professor nach Kiel berufen und konnte dort die Aufklärung zurückdrängen. Ihm zur Seite stand der Pastor Claus Harms (1778-1855), der 1817 95 Thesen zur Situation der Kirche verfasste, die den Thesen Luthers in nichts nachstanden. Er beklagte darin die zersetzende Tendenz der Aufklärungstheologie und forderte von den Kirchenleitungen einen radikalen Kurswechsel. Als Prediger hatte er wegen seiner volkstümlichen Redeweise eine große Zuhörerschaft.

  12. Berlin - Die Berliner Erweckten waren durch die Herrnhuter Bewegung des Grafen von Zinzendorf beeinflusst. Der Prediger der Böhmischen Bethlehemsgemeinde, Johannes Jänicke, gründete eine Missionsschule und war mit den englischen Evangelikalen eng verbunden. Ein reges Sozialwerk schuf der Baron Ernst von Kottwitz (1757-1843). Ein besonderes Charakteristikum der Berliner Erweckung lag darin, dass sie die hohen Gesellschaftsschichten erreichte. In Berlin ansässige Adelige wie von Bethmann-Hollweg und von Thadden wurden erweckt, ebenso König Friedrich Wilhelm IV. Zur Erweckung hielten sich auch der Alttestamentler Ernst Wilhelm Hengstenberg und der Minister Ludwig von Gerlach, beides überzeugte Lutheraner. Seit 1820 predigten für vier Jahrzehnte größtenteils bekehrte Prediger in Berlins Kirchen und Gemeinden.

  13. Pommern - Aus adeligen Kreisen in Berlin wurde die Erweckung auch nach Pommern getragen. Die Versammlungen der Brüder Below waren so stark besucht, dass die Polizei eingriff und sie kurzerhand verbot. Daraufhin versammelte man sich heimlich in Wäldern und Scheunen. Die Adeligen und Bauern trafen sich auf dem Gut von Adolf von Thadden (1796-1882), dessen Trieglaffer Konferenzen das Zentrum der Erweckungsprediger in Pommern wurde. Auch Bismarckbekehrte sich unter seinem Einfluss. Gustav Knak (1806-1878), seit 1834 Pastor in Wusterwitz, galt als der herausragende Prediger der pommerschen Erweckungsbewegung. Er organisierte besondere Missionsfeste, die das Interesse an der Äußeren Mission festigten und die Erweckung wach hielten.

  14. Hannover/ Lüneburg - Neben dem Liederdichter Philipp Spitta (1801-1859) bestimmte Pastor Ludwig Harms (1808-65) in Hermannsburg die hannoversche Erweckungsbewegung der. Er predigte evangelistisch und betonte die Äußere Mission. Hermannsburg wurde zum geistlichen Zentrum für die Lüneburger Heide und darüber hinaus. 1849 wird das heute noch bestehende Hermannsburger Missionswerk gegründet. Ludwig Harms wollte die Erweckung innerhalb der Kirche halten und betonte sehr stark die lutherischen Bekenntnisse.

Analyse und Bewertung der Erweckungsbewegung


1. Allgemeine Merkmale

  • Der große Gegner der Erweckungsbewegung war die in allen Bereichen zur Herrschaft gekommene Aufklärung mit ihrem Rationalismus und Moralismus.

  • Gegen die natürliche Religion der Aufklärung wurde persönliche Bußeund Umkehr des Einzelnen betont.

  • Das pietistische Erbe wurde aufgenommen in der Betonung der persönlichen Wiedergeburt, Bekehrung und Heiligung.

  • Die Erweckung hat vor allem dort bleibenden Einfluss erlangt, wo prägende geistliche Persönlichkeiten gewirkt haben.

  • Fast alle Bewegungen blieben im Zusammenhang der bestehenden Landeskirche. Vereinzelt kam es sogar zu einer besonderen Betonung reformatorischen Bekenntnisse.

  • Die Innere Mission und Äußere Mission wurden gleichermaßen als Aufgaben der Erweckungsbewegung erkannt.

  • Die Erweckung zu Beginn des 19.Jahrhunderts war aus evangelischer Sicht eine weltweite Erscheinung.

  • Konfessionsgrenzen traten in der Erweckungsbewegung zunächst in den Hintergrund. Im späteren Verlauf besann man sich aber gerade auf die Schätze der jeweils eigenen Konfession (Konfessionalismus) und grenzte sich stärker ab.

  • Viele Erweckungsprediger waren vom nahen Weltende überzeugt. Dies gab der Bewegung Leidenschaft aber es führte auch zu Sektenbildungen


2. Leistungen

  • Viele soziale Einrichtungen, die es bis heute gibt, wurzeln in der Erweckungsbewegung.

  • Bis heute ist das kirchliche Leben in Deutschland in vielen Punkten durch die Erweckungsbewegung bleibend positiv geprägt worden.

  • Die kirchliche Diakonie hat ihre Wurzeln in der Inneren Mission der Erweckungsbewegung.

  • Die großen Aufbrüche der evangelischen Weltmissionsarbeit waren Resultate der Erweckungsfrömmigkeit.

  • Die evangelischen Freikirchen entstanden im Umfeld der Erweckungsbewegung.

  • Gegen die rationalistische Zerstörung des Vertrauens in die Heilige Schrift wurde die besondere Offenbarung Gottes in der Bibel wieder betont.


3. Defizite

  • Der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts war eine Reformbewegung die Neuerungen gegen die herrschende Orthodoxie durchsetzte. Die Erweckungsbewegung des 19.Jahrhunderts wirkte dagegen eher reaktionär-konservativ und versuchte die als negativ empfundenen gesellschaftlichen und theologischen Neuerungen wieder rückgängig zu machen.

  • Politisch stehen die Erweckten meist aus Prinzip sehr nah bei der monarchischen Regierung, demokratische Entwicklungen werden sehr skeptisch beobachtet. Damit entfernt man sich von den aufstrebenden Bevölkerungsschichten, die anders denken.

  • Kulturell stellt sich die Erweckungsbewegung selbst ins Abseits, indem man sich z.B. von Theater und allgemeiner Geselligkeit fernhält. Intellektuelle und Arbeiter werden in ihrer Mehrheit nicht mehr erreicht.

  • Theologisch gab es nur wenige Köpfe, die fruchtbar gewirkt haben. Zum großen Teil überließ man der liberalen Theologie das Feld.

  • Gesellschaftlich wurde nur vereinzelt und lokal wirkliche Veränderung erreicht. Vor allem in den Großstädten kam es zu keinem prägenden Einfluss.

  • In Deutschland ist die Erweckungsbewegung aufgrund der politischen Gebietsvielfalt stark zersplittert und lokal begrenzt geblieben. Einen Gesamtführer der deutschen Erweckungsbewegung hat es nicht gegeben, man hat sich dadurch kaum als Gesamtbewegung verstanden und formiert. Dadurch hatte man nicht den nötigen Einfluss, um die Gesellschaft zu durchdringen.

Internationale erweckliche Aufbrüche im 19. Jahrhundert

1. USA

In Nordamerika kam es von 1797-1805 zu einer zweiten großen Erweckungswelle (Second Great Awakening), die im Laufe des 19.Jhs. immer neue geistliche Aufbrüche hervorbrachte. Populär waren dabei so genannten camp-meetings, d.h. Zeltlager um mehrtägige (oder -wöchige) Evangelisationsveranstaltungen. Prägende Persönlichkeiten wurden Charles Grandison Finney (1792-1875) und Dwight L.Moody (1837-1899).


2. Großbritannien

In England ist gegen Ende des 18.Jahrhunderts ein großer Teil der anglikanischen Staatskirche durch den Methodismus geprägt. Daraus entsteht die Evangelical Party, die auch Low Church genannt wird. Diese englischen Evangelikalen machen heute ca. 50% der anglikanischen Kirche aus. Daneben verstärkt sich aber auch ein konservativ-liturgischer Flügel, die High Church und ein kleiner liberalen sozialaktivistischen Flügel, die Broad Church.

In Schottland prangerten ab 1797 die Brüder James (1768-1851) und Robert Haldane (1764-1842) die Missstände der schottischen Staatskirche an. Sie gründeten viele unabhängige Gemeinden, die sich kongregationalistisch nannten, d.h. die Einzelgemeinde war unabhängig von Staat und Kirche. Daran knüpfte kurze Zeit später Thomas Chalmers (1780-1847) an, ein genialer Theologieprofessor und Pfarrer, der gegen den Deismus vorging und auch auf sozialem Gebiet Entscheidendes erreichte. Damit widerlegte er den Vorwurf, als würden sich Evangelium und soziales Handeln widersprechen. Der schottische Erweckungsprediger wurde auch der Vater der Evangelischen Allianz, deren Vertreter er 1846 zur Gründungsversammlung nach London eingeladen hatte.


3. Der Réveil in der Schweiz

Réveil (sprich: Reewäi) ist das französische Wort für Erweckung und Fachbegriff für diese Bewegungen in der französischsprachigen Schweiz, in Frankreich und in Holland.
Die Erweckung in der Schweiz fand ihren Ausgangspunkt in Genf. Dort bildete sich Anfang des 19. Jahrhunderts ein kleiner Theologiestudentenkreis um Ami Bost (1790-1874), der sich zum Herrnhutertum bekannte. Unter der Verkündigung der exzentrischen Baronin von Krüdener wuchs diese Gruppe bis 1815 und wandte sich gegen den Rationalismus an der Genfer Fakultät. Zwischenzeitlich war auch der schottische Erweckungsprediger Robert Haldane nach Genf gekommen und legte dem Theologenkreis den Römerbrief aus. Die Erweckten waren gezwungen, eigene Kirchen in der Gegend von Genf aufzumachen, weil ihnen die Kanzeln verboten wurden. 1823 kam es zur Gründung einer eigenen theologischen Fakultät in Genf. Bald war die Trennung von der Kirche besiegelt und neue Freikirchen entstanden, besonders im Waadtland, wo der Prediger Alexandre Vinet (1797-1847) wegweisend wurde. Vinet betonte die Freiwilligkeitskirche gegenüber der Staatskirche und wurde damit zu einem Vorkämpfer der klassischen Freikirchen. Neben Genf kam es auch in Bern und Zürich zu erwecklichen Aufbrüchen, deren Anhänger aber innerhalb der reformierten Kirche blieben.


4. Der Réveil in Frankreich

Die Erweckung in Frankreich war durch Auswirkung der Genfer Ereignisse bewirkt worden. Henry Pyt und Ami Bost predigten in Südfrankreich und führten viele Menschen zum Glauben. Aber erst durch Adolphe Monod (1802-56) kam es in den 1830er Jahren zu einer echten Erweckungsbewegung in Frankreich. Monod hatte sich 1827 in Neapel bekehrt und wurde Prediger der reformierten Gemeinden in Lyon. In einem Streit um den rechten Abendmahlsgenuss kam es zur Trennung von der reformierten Gemeinde und zur Gründung der ersten freien Gemeinde in Lyon unter Monod. Später wirkte er als Pastor in Paris, vernachlässigte aber niemals die erweckliche Evangelisationspredigt. Auch er konnte Tausende zum Glauben


5. Die Niederlande

Unter reformiertem Einfluss stand auch die Erweckung in den Niederlanden, die durch den Universalgelehrten Willem Bilderdijk (1759-1831) angestoßen wurde. Bilderdijk war Jurist, Philosoph, Historiker, Dichter und Schriftsteller in einem. Er wandte sich gegen den zunehmenden Liberalismus an den Universitäten und in der Politik, ohne die höheren Stände erreichen zu können. Sein Schüler wurde Groen van Prinsterer (1801-76), der zusammen mit Isaac da Costa die Erweckung in Holland durchsetzte. Charakteristisch wurde hier die starke Betonung des Calvinismus, der mit der Erweckung zu einer neuen Blüte kam. Dabei waren die Einflüsse der Genfer Erweckungstheologen entscheidend. Unter Abraham Kuyper drang dieser Neocalvinismus später auch in die Politik ein. Er führte zu verschiedenen Spaltungen innerhalb der reformierten Staatskirche in Holland, aber auch zur Gründung von protestantischen Parteien und einer eigenen, bibeltreuen Hochschule in Amsterdam.


6. Skandinavien

In Schweden blieb die durch die Herrnhuter vorbereitete Erweckungsbewegung in lutherischen Bahnen. Karl Olof Rosenius (1816-68) wirkte dort als Missionsprediger, der die kirchenkritischen Kreise sammeln und einigen konnte.
In Norwegenbegann die Erweckung mit dem Evangelisten Nils Hauge (1771-1824), der als Laienprediger von Stadt zu Stadt zog. Auch er warnte vor einer Trennung von der Landeskirche, drängte den Rationalismus zurück und hatte Einfluss auf Politik und Wirtschaft. So verblieben auch die norwegischen Erweckten innerhalb der lutherischen Kirche, bildeten aber missionarische Vereine auf Ortsebene.
Auch Dänemark kannte eine Erweckungsbewegung. Zu nennen ist hier Pastor Severin Grundtvig (1783-1872), der eine große Bewegung hinter sich bringen konnte. Auch hier stand der Einfluss auf die Gesellschaft sowie Bekehrung und Wiedergeburt im Mittelpunkt der Verkündigung.
In Finnland wird der Bauer Paavo Ruotsalainen (1777-1852) zum Führer einer volkstümlichen Erweckungsbewegung, die breite Volksschichten erreicht.

Die Entstehung der Inneren Mission


Die soziale Lage in Deutschland um 1815

Schon seit den Anfängen des Christentums kümmerten sich die christlichen Gemeinden um Arme, Kranke, Witwen und Waisen (vgl. Apg. 6). Im Mittelalter entwickelte sich in den meisten Städten Deutschlands ein einigermaßen wirksames System kommunaler Armenfürsorge, so dass es zu keinem großflächigen Elend kam. Ab 1750 änderte sich die Situation in Deutschland durch verschiedene Faktoren:

  • Verbesserte Nahrungsversorgung: Durch Ausbau der Anbauflächen, verbesserte Bewirtschaftungsmethoden und durch die Einführung des Kartoffelanbaus in Preußen seit 1738 konnten viel mehr Menschen ernährt werden.

  • Vielfältigere Existenzmöglichkeiten: Es kam zum Wegfall von Heiratsbeschränkungen und grundherrschaftlichen Bindungen. Viele abhängigen Bauern wurden frei, Zunftordnungen wurden aufgelöst, wirtschaftlich entstand langsam Gewerbefreiheit.

  • Bevölkerungsexplosion: Diese Veränderungen führten dazu, dass die Bevölkerung Deutschlands von 17 Millionen um 1750 auf 23 Millionen um 1800 anwuchs (35 %!). Bis 1850 stieg sie um weitere 60% auf 37 Millionen.

  • Produktivitäts-Stagnation: Da die Industrialisierung in Deutschland erst gegen 1850 einsetzt, kann die Wirtschaftsproduktion die vergrößerte Bevölkerung nicht ausreichend versorgen. Es kommt zu Massenarbeitslosigkeit. Dadurch entsteht eine neue Unterschicht, die am Rande des Existenzminimums lebt. Das Problem war also vor 1850 noch nicht die Industrialisierung, sondern fehlende Industrie!

Das System der christlich-bürgerlichen Armenfürsorge (wie noch bei Spener!) brach aufgrund dieser neuen Massenarmut ab 1815 immer mehr zusammen. Man spricht nun von Pauperismus (pauper = lat. arm). Erst in den 1850er Jahren greift in Deutschland die Industrialisierung, welche die armen Bevölkerungsschichten in Massen in die Fabriken zieht und das „Proletariat“ entstehen lässt.


Warum entstanden nach 1815 freie diakonische Vereine?

  • Deutschland wurde durch die napoleonischen Kriege 1806-1815 territorial und religiös so durcheinander geworfen, dass in den meisten Staaten mehrere Konfessionen nebeneinander bestanden. Religion wurde damit immer mehr zu einer Sache der persönlichen Überzeugung.

  • Außerdem eröffneten Veränderungen des Vereinsrechts seit 1815 Menschen mit ähnlichen religiösen Ansichten die Möglichkeit freie Vereine zu bilden. Das Individuum sollte das öffentliche Leben nun stärker mitgestalten. Einige der „Erweckten“ sahen das als Chance und wurden selbständig aktiv ohne auf die Kirchenleitungen und Pfarrer zu warten. Vorbild für die Vereinsgründungen waren die schon vielerorts geduldeten pietistischen Konventikel. Von daher schwang in den Vereinen von Beginn ein kirchenkritisches Element mit.

  • Natürlich hatten sich Christen schon immer um Arme gekümmert, die Diakonie nach 1815 aber unterschied sich davon in drei grundsätzlichen Punkten:

  • Nun kam es zum ersten Mal zum Aufbau überregionaler Hilfsorganisationen. Auf der Welle eines seit den napoleonischen Kriegen immer stärker werdenden gesamtdeutschen Bewusstseins (Hoffmann von Fallersleben dichtet 1841 „Deutschland, Deutschland über alles …“) versucht man gegen das Massenelend nun auch großflächig anzugehen.

  • Die freie Vereins-Diakonie wurde in von der Erweckungsbewegung getragen. Ihr ging es nicht nur um soziale Zuwendung, sondern vor allem um eine Neuverkündigung der christlichen Botschaft an die entchristlichte Unterschicht. Diakonie verband sich mit Evangelisation, da die Wurzel des Elends letztlich in der Gottlosigkeit gesehen wurde.

  • Das erweckliche Christentum in Deutschland sah sich in einem großen Streit mit dem aufklärerischen Atheismus. Wenn man schon mit Vernunftargumenten die Überlegenheit des christlichen Glaubens nicht mehr erweisen konnte, dann wollte man es eben durch das soziale Engagement tun. Der große Feind wurde deswegen der Kommunismus, der sich auch um die Armen kümmerte, um sie vom Atheismus zu überzeugen! Es ging also aus der Sicht der Erweckten nicht um „absichtslose Liebe“, sondern um einen Kampf der Weltanschauungen!


Johann Hinrich Wichern (1808-1881) und das Rauhe Haus

1. Wicherns Jugend und Studium

Johann Hinrich Wichern wird am 21.4.1808 als Ältester von 7 Geschwistern geboren (2008 feiern wir also seinen 200.Geburtstag). Sein Vater arbeitet sich aus einfachen Verhältnissen zum Notar hoch und fördert dann auch den sozialen Aufstieg des erstgeborenen Sohnes durch Privatschule, Gymnasium und Klavierunterricht. Wichern wird ein sehr guter Klavierspieler und Sänger (im Rauhen Haus wurde später der Gesang gepflegt). Der Vater stirbt 1823 mit 47, als Wichern 15 ist! Wichern gibt nun Klavierunterricht und Nachhilfe zur Versorgung der Familie. Zwischen dem 16. und 18.Lebensjahr erlebt Wichern seinen geistigen und geistlichen Durchbruch, so dass er seitdem zu den „Erweckten“ in Hamburg gehörte.

Diese Kreise unterstützen ihn dann auch, als er ab 1828 Theologie in Berlin und Göttingen studiert, um später Pastor in Hamburg zu werden. Am 6.4.1832 legt er die theologische Prüfung — ab und war von da an Candidatus (bis 1857), d.h. er stand auf dem aussichtlosen Platz 30 einer langen Warteliste für die wenigen Hamburger Pfarrstellen.


2. Die Idee reift

Wichern übernahm in dieser Situation zunächst eine erste Stelle als Oberlehrer in der Sonntagsschule St. Georg, d.h. er instruierte Ehrenamtliche für die Sonntagsschule. Er hatte schon die Sehnsucht, „Gottes Reich unter den Armen zu bauen“. Sein Denkmuster war: Gottlosigkeit führt zu Sittenverderben und das führt zu Armut. Glaubenserweckung hingegen führt zu Moral und das wiederum führt zu Wohlstand. Wichern trat 1832 auch einem Besuchsverein bei, der die Eltern der Sonntagsschulkinder zu Hause besuchte. Durch diese Arbeit lernte Wichern die Elendsquartiere in Hamburg kennen. Dabei erkannte er das ungeheure Maß der Verwahrlosung und beschloss den Bau eines Rettungshauses in Hamburg. Schnell finden sich ein paar Förderer des Projekts. Am 12.9.1833 erfolgt die öffentliche Information in der Börsenhalle mit einer programmatischen Rede zur Gründung einer „Anstalt zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Darin erzählt Wichern:

„Ich bitte, mir im Geiste in diese Wohnungen zu folgen. In der Tür gerade an wohnt eine Frau, die als Kind mit Mutter und Geschwistern bei Nacht von dem trunkfälligen Vater auf die Straße getrieben zu werden pflegte. Als die Eltern gestorben waren, verehelichte sie sich und wurde Mutter von einem Sohne, der jetzt, etwa 17 Jahre alt, tagaus, tagein Lumpen und Knochen sammelt. Nach dem Tode des ersten Mannes trat die Frau in eine wilde Ehe mit einem andern Manne […]. Der Mann ist gestorben und hat das Weib als Mutter von zwei Kindern zurückgelassen; das eine von diesen ist ein niedlicher Knabe von sechs bis sieben Jahren, der hilflos in diesem Jammer herumschleicht, das andere ein zwölfjähriges Mädchen. Seit vielen Jahren stockblind. Geistige Nahrung irgendwelcher Art ist ihr bis vor kurzem nie geboten. […] Diesem Saale gegenüber wohnt in einer anderen Tür ein wilder Mensch, ein Wall- oder Chauseearbeiter, ein entsetzlicher Trunkenbold; eine Kinderbettstelle, ein wenig zerbrochenes anders Mobiliar und ekelhafter Schmutz füllen diese Behausung. […] Bis zum letzten Frühjahr hatte dieser Mensch einen Neffen bei sich, der seinen Vater und seine Mutter nie gesehen hat; derselbe ist 18 Jahre alt, sammelte bis zum vorigen Winter am Tage Lumpen, aus denen er des Nachts seine Kopfkissen bereitete; Wäsche hatte er im letzten Winter nicht auf seinem Leibe. Seit dem Frühjahr dient er bei einem Hufschmied, ist noch nicht konfirmiert, kann weder lesen noch beten, hat es auch nicht lernen wollen, so fleißig er dazu ist angetrieben worden.[…] Eine Treppe höher in einer Dachwohnung [leben] in wilder Ehe [andere Leute]. Der Mann schneidet Schwefelhölzer, das Weib unterstützt ihn dabei, ein kleiner Knabe muss die Ware verkaufen helfen. […] Er ist minder glücklich als seine in rechtmäßiger Ehe geborenen elf Geschwister, die alle bis auf eine zehnjährige Schwester bereits verstorben sind. Vor einigen Jahren hatten jene Menschen (dürfen wir sie noch Eltern nennen?) den armen Knaben eingesperrt, um ihn erfrieren und verhungern zu lassen. Das Gewinsel des Knaben zog die Nachbarn herbei; so ist er gerettet, hat aber an dem einen Fuß einen Teil der Zehen, und an einer Hand die Hälfte der Finger eingebüßt.“


3. Das Rauhe Haus

Ein geeignetes Gebäude für das neue „Rettungshaus“ wird in Hamburg-Horn bald gefunden, das „Rauhe Haus“ (von „Ruges Haus“ – so hieß wahrscheinlich der Erbauer). Am 31.10.1833 bezieht Wichern (25-jährig!) mit seiner Mutter und Schwester das Haus – acht Tage später folgen die ersten drei Jungen.

Die Anstalt war aufgebaut nach dem Familienprinzip in Hausgruppen zu 10-12 Leuten, da Wichern in der Zerrüttung der Familien den Hauptgrund für die Missstände sah. Auch wenn die Familie dadurch nicht voll ersetzt werden konnte, gab es so doch eine neue Vertrauensgemeinschaft und eine individuelle Prägung der Persönlichkeit. Der zweite Grundzug war das Freiheitsprinzip: Zum einen gab es keine Bindung an den Staat, keine finanziellen Staatszuwendungen um frei zu bleiben: ein Werk der freien christlichen Liebe. Zum Zweiten gab es auch keine Zwangseingewiesenen und keine Mauern:

Folgendes waren die Worte die jedes neue Kind zu Beginn von Wichern gesagt bekam:“Mein Kind, dir ist alles vergeben. Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel, nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht, du magst sie zerreißen, wenn du kannst, diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich, dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und den Menschen!“ (Wichern, Sämtliche Werke, Band 4/ 1, 119)

1834 wurde das zweite Haus eingerichtet, bis 1845 eine christliche Kolonie mit 5 Häusern entstand, in denen die Kinder täglich 2-3 Stunden Unterricht erhielten und 6-9 Stunden praktisch arbeiteten um dabei geistlich und moralisch geprägt zu werden.


4. Die Gründung des Brüderhauses

Schon bald nach der Eröffnung des Rauhen Hauses begann Wichern selbst damit, „entschieden gläubige und bekehrte Handwerksgesellen“ als „Gehilfen“ für seine Arbeit anzustellen, die dann die Leitung der einzelnen Erziehungsgruppen übernehmen sollten. Sie wurden aufgrund der Familiengruppenstruktur „Brüder“ genannt. 1837 wurde Wichern zum ersten Mal gefragt, ob er nicht auch einen Bruder für ein anderes diakonisches Arbeitsfeld abgeben könnte. Bis 1845 wurden dann schon 15 „Sendbrüder“ in vielfältige Aufgaben geschickt. Aus dem Brüderhaus wurde langsam eine Ausbildungsstätte mit deutschlandweiter Perspektive. 1840 spricht Wichern zum ersten Mal davon, dass seine Brüder für die „inländische Mission“ wichtig sind. 1843 nennt er es zum 1.Mal: „das Gehilfeninstitut, als Seminar für innere Mission“. Damit war der Begriff geboren der von nun an als Oberbegriff der verschiedensten diakonischen Arbeitsfelder in Deutschland dienen sollte. 1844 erscheinen zum 1.Mal die „Fliegenden Blätter“, um das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der verstreut arbeitenden Brüder zu stärken.


5. Wicherns Stegreifrede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848

In den 1840er Jahren wird die deutsche Einigung immer mehr zu einem Thema, dass auch vom aufstrebenden Kommunismus durch Feuerbach und Marx aufgegriffen wird. Im März 1848 kommt es zu revolutionären Bestrebungen in Deutschland. In dieser Situation fördert der preußische König Friedrich Wilhelm IV eine Einigung der deutschen Landeskirchen, um eine deutsche Einigung unter bewusst christlichem (und antikommunistischen) Vorzeichen zu unterstützen.

Deswegen beruft man für den September eine gesamtdeutsche Kirchenversammlung mit 500 Teilnehmern nach Wittenberg. Wichern sieht darin eine Chance eine überregional-vernetzte diakonische Arbeit  zu begründen und setzt durch, dass das Thema „Innere Mission“ auf die Tagesordnung kommt.

Er wird um Stellungnahme gebeten und hält in der Wittenberger Schlosskirche seine berühmte und durchschlagende fünfviertelstündige so genannte Stegreifrede.

Die inhaltliche Linie Wicherns besteht darin: Soziale Misstände → Revolution

Daher: Kirchenbund → Innere Mission → Behebung der Misstände → Abwehr der Revolution.

Diese Argumentation hat Erfolg: Die Innere Mission wird umfassend als Anliegen des Kirchenbundes aufgenommen, es wird ein Central-Ausschuss für Innere Mission begründet, für den Wichern dann ein Programm entwirft. Die Gründung des eigentlichen Kirchenbundes scheitert dann zwar, aber gerade deswegen wird der Central-Ausschuss für in der Folgezeit bereitwillig weiter unterstützt. Er bildete damals die einzige gesamtdeutsch operierende christliche Organisation. Damit rückte die Diakonie erstmals deutschlandweit ins christliche Blickfeld und schuf die Grundlagen für das bis heute bestehende duale System sozialer Sicherung.


6. Wicherns Denkschrift 1849

Anfang 1849 erscheint Wicherns DENKSCHRIFT zum Verständnis von Innerer Mission.

Wichern lehnt sich dabei an die Konzeption des „christlichen Staates“ von Friedrich Julius Stahl (1802-1861) an. Wichern will danach nicht einfach nur Not lindern, er will Reich Gottes bauen, und das versteht er umfassend national und volkskirchlich (nicht als pietistisches Herausretten von Einzelnen!). Es geht ihm um eine christliche Kultur in Staat, Familie, Kunst und Wissenschaft

Innere Mission versteht er also als Ausbreitung des Reiches Gottes im Sinne einer von Gott geprägten Gesellschaft. Das Ziel ist für ihn ein christliches Volk!

Seine Analyse: Das Massenelend Deutschlands resultiert aus seiner Gottlosigkeit (Sünde)!

Seine Strategie: Soziale Hilfe soll die Ohren für das Evangelium öffnen. Dies wird dafür sorgen, dass Menschen zum Glauben kommen und damit auch ihr äußeres Elend überwinden.

Das heißt also: Sozialarbeit ist nie Selbstzweck sondern nur Sprungbrett der Evangelisation, denn nur eine Wiederchristianisierung der Gesellschaft behebt die Nöte wirklich! Wichern will eine umfassende soziale Erneuerung, nicht nur karitative Zufälligkeit! Darin ist er sich mit dem Kommunismus einig.

Wichern war total religiös motiviert. Er wollte keine „absichtslose Liebe“, sondern die Instrumentalisierung der sozialen Arbeit zur Rechristianisierung Deutschlands. Das Ziel war ein Volk von lebendigen Christen, das nach den Ordnungen des Reiches Gottes lebt. Deswegen waren auch die Pietisten keine große Hilfe, denn ihre Konventikel interessierten sich kaum für das Ganze der Gesellschaft.


7. Wichern und der Kommunismus

Der Kommunismus vermittelte seine Inhalte auch durch die Form sozialer Hilfe und hatte damit Erfolg.

Gleichzeitig verlor die christliche Verkündigung ihre Kommunizierbarkeit. Also musste Wichern das Christentum nicht nur individuell, sondern auch als sozial überlegen erweisen. Wichern hat gesehen, dass der Atheismus denkmöglich geworden ist, daher muss er auf dem Gebiet der Problemlösungskompetenz geschlagen werden: Wicherns These lautete: Keiner kann besser die soziale Frage lösen als das Christentum! Deswegen mussten Liebe und Glaube unbedingt eine Einheit bilden.

Es ging auf keinen Fall einfach nur um soziale Hilfe egal aus welcher Motivation. Die Motivation war geradezu das Entscheidende! Deswegen war der Kommunismus kein ergänzender Freund, sondern der Todfeind, denn seine sozialen Hilfsprogramme führten die Menschen gerade nicht zum Evangelium, und damit auch nicht zur wirklich rettenden Kultur!


8. Wichern im preußischen Staatsdienst und Lebensende

Seit 1844 hatte Wichern Kontakte zum preußischen König Friedrich-Wilhelm IV. Der König wollte eine Gefängnisreform: Ablösung der Kollektivhaft durch Einzelhaft. Positive Wärter sollten die Gefangenen prägen. Dafür aber brauchte man geeignetes Personal. Dafür sollte Wichern sorgen.

1856 nahmen 38 Wichern-Brüder ihren Dienst auf

1857 wurde Wichern vortragender Rat (für Gefängnisangelegenheiten) im Innenministerium

Nachdem 1858 Friedrich-Wilhelm IV seine Herrschaft abgab wurde der Vertrag mit der Brüderanstalt zur Ausbildung von Gefängniswärtern 1862 nicht erneuert. Damit scheiterten Wicherns Pläne.

Ebenso scheiterte 1856 auf der Monbijou-Konferenz sein Versuch den „Diakon“ als gleichberechtigtes kirchliches Amt neben dem „Pfarrer“ anerkennen zu lassen (dies geschah erst 1996!).

1874 erkrankte Wichern schwer. Er starb am 7.4.1881.


9. Die Vereinsstruktur der Inneren Mission

Als Organisationsform setzt sich in der Inneren Mission der freie Verein durch. Das zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgekommene Vereinsrecht bietet dem organisatorisch hochbegabten Wichern eine ideale Basis. Die Innere Mission sollte frei sein von kirchlicher Bindung (wie das Rauhe Haus vom Staat) Vereine waren für ihn eine Erscheinungsform des Allgemeinen Priestertums, deswegen hielt er die Innere Mission für kirchlich, auch wenn sie völlig unabhängig von den Kirchenstrukturen agierte. Ein kirchlicher Amtsinhaber konnte aber auch als Ausdruck seines allgemeinen Priestertums in der Inneren Mission mitmachen.


10. Die Stellung der Inneren Mission zur Kirche

Was unterschied die Innere Mission von der traditionellen kirchlichen Armenpflege?

  • Das Motiv: Integration von sozialer Zuwendung und Verkündigung des Evangeliums. Damit griff Wichern in das traditionelle kirchliche Aufgabenfeld ein: Verkündigung war bisher Amtssache!

  • Zusammenschluss und überregionale Organisation aller Hilfsbestrebungen

Wichern hatte ein Doppelkonzept: Freie Entfaltung bei Nähe zur (und Schirmherrschaft der) Kirche. Dies sollte 50 Jahre später der Gemeinschaftsbewegung als strukturelles Vorbild dienen (In – MIT – aber NICHT UNTER der Kirche).

Die Kirchenleitungen selbst begriffen erst am Ende des 19. Jh., dass die Diakonie als zentraler Faktor für die Kommunikation des Evangeliums in die Gesellschaft hinein wirkt und erklärten dann die Diakonie zu ihrer Sache. Heute wird von der soziologischen Systemtheorie klar herausgestellt, dass die Diakonie als „Erbringung von Leistung“ unverzichtbar für die Kirche ist, um überhaupt noch einen Bezug zu anderen Kommunikationssystemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw.) zu bekommen.

Außerdem hatten die Landeskirchen selbst kein arbeitsfähiges Dach im Sinne einer Zentralinstanz und brauchten somit die Innere Mission auch zur landeskirchenübergreifenden Kommunikation!


11. Wicherns Haltung zu staatlicher Sozialpolitik

In der Wicherngeneration gab es noch keine Forderung nach aktiver staatlicher Sozialpolitik, da man noch von einem christlichen Staat träumte, in dem die Christen selbst im Rahmen des allgemeinen Priestertums alle Missstände beheben. Wichern traut einer hierarchisch abgehobenen Ebene in Kirche und Staat keinerlei Veränderungskompetenz zu. Für ihn setzt alles an der Basis an: deswegen Vereine statt Politik und Kirche. Nur an der Basis konnte sich für ihn das Christentum wieder durchsetzen (in Familien und Vereinen), nie von oben herab. Staatliche Maßnahmen konnten vielleicht Not lindern, aber darauf kam es Wichern nicht an. Er wollte christianisieren, und dazu war die Politik nicht zu gebrauchen. Erst nach Wicherns Tod begriff man, dass im Zeitalter des weltanschaulichen Pluralismus die Diakonie auch politisch offensiv um einen Mitgestaltungsanspruch kämpfen muss (man nennt dies „Wichern II“).


12. Wichern: ein Fazit

Wichern ging es nicht vorrangig um die soziale Frage, auch nicht um die Rettung einzelner Seelen, sondern um die Entkirchlichungsproblematik. Wichern war mehr als nur ein Pietist, der aus innerer Überzeugung Menschen helfen wollte. Seine Vision war die geistliche Erneuerung Deutschlands durch die Überwindung sozialer Missstände. Historisch gesehen ist Wichern mit diesem Ziel, eine christliche Gesellschaft wieder herzustellen, gescheitert.

  • Systemtheoretisch gesehen hat er aber ein wichtiges Ziel erreicht! Dem Christentum wurde Bedeutung gesichert, es wurde modernisiert. Wichern behielt den alten christlichen Inhalt und goss ihn in die neue zeitgemäße Form von Sozialarbeit.

  • Man darf Wichern nicht als Sozialpolitiker bewerten, sondern als Religionspraktiker. Er hat die Bedeutung der Kirche in der Moderne gesichert, weil er Verkündigung mit Diakonie verbunden hat.

  • Bis heute hat sich die Diakonie neben der Kirche als wirkungsvolle christliche „Zweitstruktur“ erwiesen, die in der Lage ist, durch Leistung auch religiöse Sinngehalte zu kommunizieren. Heute würde ohne die Diakonie kaum noch jemand Bezug zur Kirche finden.

  • Das duale System sozialer Sicherung (freie Träger und staatliche Träger gehen Hand in Hand) ist bis heute von Wichern geprägt.


13. Theodor Fliedner und die ersten Diakonissen

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es praktisch keine Mitarbeit der evangelischen Frau in der diakonischen Arbeit. Theodor Fliedner (1800-1864) gilt als Begründer der weiblichen Diakonie. 1822 übernahm er sein erstes Pfarramt in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Da seine Gemeinde sehr verarmt war, unternahm er Kollektenreisen, die ihn 1832 zunächst nach Holland führten, wo er bei Mennoniten das Amt der Diakonisse kennen lernte, und danach nach England, wo er bei der Quäkerin Elizabeth Fry eine vielfältige kirchlich-soziale Tätigkeit erlebte.Völlig verzweifelt war damals nicht selten die Lage von verwitweten und unverheirateten Frauen. Fliedner sah es als seine große Sendung, diesen Frauen eine neue Aufgabe in der Gesellschaft zu geben. Nachdem Fliedner sich seit 1833 schon um entlassene weibliche Strafgefangene gekümmert hatte, eröffnete er zusammen mit seiner Frau Friederike 1836 in Kaiserswerth ein Krankenhaus. Der dortige Bedarf an Pflegerinnen führte ihn zur Gründung des Rheinisch-Westfälischen Diakonissenvereins. Die Einsegnung von Gertrud Reichardt am 20.10.1836 markierte den Beginn des neuzeitlichen Diakonissenwesens in Deutschland. Die Diakonissen bekamen von Fliedner die Tracht der verheirateten Bürgerfrau als Zeichen der Würde ihres Berufs. Hiermit eröffnete Fliedner der unverheirateten Frau ein neues Wirkungsfeld im öffentlichen Leben, und die Kaiserswerther Arbeit wurde zum Vorbild für weitere Mutterhausgründungen. Fliedner bildete ein ziemliches straffes preußisches System heraus, das auf unbedingten Gehorsam und Unterordnung aufgebaut war. Nicht die Eigenverantwortung, sondern der schlichte und pünktliche Gehorsam der Diakonisse standen obenan. Daneben sah auch Fliedner selbst die Notwendigkeit der männlichen Diakonie und gründete 1844 die zweite deutsche Diakonenanstalt (nach dem Rauhen Haus in Hamburg) in Duisburg. Die weibliche Diakonie fasste aber insgesamt im kirchlichen Leben viel schneller Fuß und stellte die männliche Diakonie auch zahlenmäßig weit in den Schatten: Bis 1900 entstanden im Deutschen Reich über 50 Mutterhäuser mit 10000 Diakonissen neben 17 Brüderhäusern mit insgesamt 2500 Diakonen.


14. Diakonische Konzeptionen

Mit den Namen Fliedner und Wichern verbanden sich zwei unterschiedliche Konzepte diakonischer Arbeit. Fliedner hatte als reformierter Pfarrer eine sehr kirchennahe Perspektive, während der Lutheraner Wichern, der nie ein Pfarramt übernehmen konnte, von Beginn an auf freie Vereine als Träger der diakonischen Arbeit setzte. Der Hauptunterschied war dabei die unterschiedliche Gewichtung von pflegerischen und missionarischen Aspekten. Während Wicherns soziale Aktivitäten immer aufs engste mit volksmissionarischen Intentionen verknüpft und am Ende auch dafür instrumentalisiert wurden, betonte Fliedner bewusst die pflegerischen Aspekte vor den missionarischen, sowohl bei den Diakonissen als auch bei den Diakonen.Nach innen war Fliedner viel stärker vom katholischen Ordensgedanken beeinflusst, was sich vor allem in der lebenslangen Bindung der Diakonissen und Diakone an die Ausbildungsstätte, dem Mutterhausprinzip, äußerte. Neben diesen Unterschieden aber entwickelte sich durch Fliedner und Wichern ein im Großen und Ganzen einheitlicher Typus von Diakonen und Diakonissen. Charakteristisch waren dafür die Begriffe Berufung, Gemeinschaft und Dienst. Die Grundlage des neuen Berufsbildes war die Überzeugung, berufen zu sein, woraus Wichern bald das Sendungsprinzip zur Arbeitsplatzfindung entwickelte. Man verstand sich nicht als Sozialarbeiter(in) mit christlicher Gesinnung, sondern als Reichsgottesarbeiter(in). Daher standen auch die geistliche und charakterliche Qualifikation im Vordergrund, die Bildungsvoraussetzungen spielten eine untergeordnete Rolle. Im Alltag wurde bei Diakonen und Diakonissen der Gemeinschaftsaspekt stark betont, da man davon ausging, nur in der gegenseitigen Bestätigung und Korrektur die Kraft zu empfangen, um den Dienst in einer oft kirchenfeindlichen Umgebung zu tun. Dabei war das Erziehungsziel immer die nachgeordnete Mitarbeit in der Inneren Mission, der Dienst aufopfernder Liebe. Hierbei flossen biblische Aspekte wie Demut, Zucht und Mäßigung schnell mit den preußischen Sekundärtugenden zusammen: Treue, Opferbereitschaft, Fleiß, Pünktlichkeit, Gehorsam, Bescheidenheit.Die Ehelosigkeit der Diakonissen war von Anfang an nie als Zölibat im Sinne eines geistlichen Gelübdes gedacht. Das Frauenbild der damaligen Zeit ließ es aber für Fliedner selbstverständlich erscheinen, dass eine Ehefrau ihre Aufgabe in der Hingabe an die Familie hätte, und dass von daher eine verheiratete Diakonisse rein pragmatisch nicht vorstellbar war. Bei den Diakonen allerdings war eine Verheiratung geradezu erwünscht, da viele Brüder als Leiter diakonischer Anstalten auf die Unterstützung einer Ehefrau angewiesen waren.Neben Fliedner entwickelten Franz Härter in Straßburg und Amalie Sieveking in Hamburg Alternativmodelle des Diakonissenwesens, die das gemeinschaftliche Leben und die demokratische Mitbestimmung der Schwestern stärker betonten. Sie setzten sich allerdings gegen das Fliednersche Modell nicht durch, da sich die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie mit ihrer stark funktionalen Orientierung an sozialen Dienstleistungen und einer effektiven Kosten-Nutzen-Relation in das leistungsorientierte System der beginnenden Industriegesellschaft weitaus besser einfügen konnte. 1854 gründete der streng lutherische Wilhelm Löhe (1808 – 1872) ein Diakonissen-Mutterhaus in Neuendettelsau bei Nürnberg, das weitreichende Bedeutung bekam. Hermann Bezzel (1861-1917) übernahm als dritter Nachfolger von Wilhelm Löhe das Werk der bayrischen Erweckung. In seinem Amt als Rektor der Diakonissenanstalt und später als bayrischer Bischof arbeitete Bezzel für einen lutherisch-erwecklich-
diakonischen Aufbruch der Kirche.

Der Réveil in Frankreich

Die Erweckung in Frankreich war durch Auswirkung der Genfer Ereignisse bewirkt worden. Henry Pyt und Ami Bost predigten in Südfrankreich und führten viele Menschen zum Glauben. Aber erst durch Adolphe Monod (1802-56) kam es in den 1830er Jahren zu einer echten Erweckungsbewegung in Frankreich. Monod hatte sich 1827 in Neapel bekehrt und wurde Prediger der reformierten Gemeinden in Lyon. In einem Streit um den rechten Abendmahlsgenuss kam es zur Trennung von der reformierten Gemeinde und zur Gründung der ersten freien Gemeinde in Lyon unter Monod. Später wirkte er als Pastor in Paris, vernachlässigte aber niemals die erweckliche Evangelisationspredigt. Auch er konnte Tausende zum Glauben


Die Niederlande

Unter reformiertem Einfluss stand auch die Erweckung in den Niederlanden, die durch den Universalgelehrten Willem Bilderdijk (1759-1831) angestoßen wurde. Bilderdijk war Jurist, Philosoph, Historiker, Dichter und Schriftsteller in einem. Er wandte sich gegen den zunehmenden Liberalismus an den Universitäten und in der Politik, ohne die höheren Stände erreichen zu können. Sein Schüler wurde Groen van Prinsterer (1801-76), der zusammen mit Isaac da Costa die Erweckung in Holland durchsetzte. Charakteristisch wurde hier die starke Betonung des Calvinismus, der mit der Erweckung zu einer neuen Blüte kam. Dabei waren die Einflüsse der Genfer Erweckungstheologen entscheidend. Unter Abraham Kuyper drang dieser Neocalvinismus später auch in die Politik ein. Er führte zu verschiedenen Spaltungen innerhalb der reformierten Staatskirche in Holland, aber auch zur Gründung von protestantischen Parteien und einer eigenen, bibeltreuen Hochschule in Amsterdam.


Skandinavien

In Schweden blieb die durch die Herrnhuter vorbereitete Erweckungsbewegung in lutherischen Bahnen. Karl Olof Rosenius (1816-68) wirkte dort als Missionsprediger, der die kirchenkritischen Kreise sammeln und einigen konnte.
In Norwegenbegann die Erweckung mit dem Evangelisten Nils Hauge (1771-1824), der als Laienprediger von Stadt zu Stadt zog. Auch er warnte vor einer Trennung von der Landeskirche, drängte den Rationalismus zurück und hatte Einfluss auf Politik und Wirtschaft. So verblieben auch die norwegischen Erweckten innerhalb der lutherischen Kirche, bildeten aber missionarische Vereine auf Ortsebene.
Auch Dänemark kannte eine Erweckungsbewegung. Zu nennen ist hier Pastor Severin Grundtvig (1783-1872), der eine große Bewegung hinter sich bringen konnte. Auch hier stand der Einfluss auf die Gesellschaft sowie Bekehrung und Wiedergeburt im Mittelpunkt der Verkündigung.
In Finnland wird der Bauer Paavo Ruotsalainen (1777-1852) zum Führer einer volkstümlichen Erweckungsbewegung, die breite Volksschichten erreicht.

Die Äußere Mission zur Zeit der Erweckungsbewegung


Die deutschsprachigen klassischen Missionsgesellschaften

Schon 1780 war in Basel die Deutsche Christentumsgesellschaft gegründet worden. Nachdem zunächst nur die Förderung lebendigen Glaubens im deutschsprachigen Bereich beabsichtigt war, kam es bald durch intensive Kontakte nach England auch zur Förderung und finanziellen Unterstützung des Missionsgedankens. Durch die Wirren der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege und den etwas späteren (als in England) Erweckungsschub in Deutschland verzögerte sich aber die praktische Verwirklichung von kontinentalen Missionsgesellschaften.

Im Jahr 1800 kam es durch den Berliner Pfarrer Johannes Jähnicke (1748-1827) zur Gründung des ersten deutschen Missionsseminars in Berlin. Genau zu der Zeit als die Aufklärung in Deutschland noch ihre Triumphe feierte und die dänisch-hallische Mission ihren Niedergang erlebte, begann er sieben junge Männer in Englisch, Latein, Homiletik und Bibelkunde für den Missionsdienst auszubilden. Innerhalb der folgenden 50 Jahre wurden von hier 80 Missionare in alle Welt geschickt. Der berühmteste davon wurde Karl Gützlaff (1803-1851), der eine visionäre Arbeit in China begann.

  • 1815 kommt es zur Gründung der Basler Mission. Sie sammelte die Missionsfreunde aus der Schweiz, dem Elsass, Österreich und Süddeutschland. 1816 wurde dazu das Basler Missionsseminar gegründet. Hier wurden viele Kräfte gebündelt, so dass in den 100 Jahren bis zum 1.Weltkrieg 450 Missionare ausgesandt werden konnten. Zunächst ging man in holländische und englische Kolonialgebiete, ab 1884 dann verstärkt auch in die neuen deutschen Kolonien (Kamerun, Togo, Namibia).

  • 1824 wurde die Berliner Mission aus erweckten Kreisen der preußischen Landeskirche gegründet. 1833 wurden die ersten eigenen Missionare nach Südafrika ausgesandt, wo man bis zum Ende des Jahrhunderts ca. 100 Missionare, 800 einheimische Mitarbeiter und 55.000 getaufte Christen vorweisen konnte. Später gingen Berliner Missionare auch nach Indien und China. 1833 stieß der bekehrte ex-katholische Priester Johannes Gossner zur Berliner Mission und gründet 1836 dann eine eigene Missionsgesellschaft, die Goßnersche Mission, die in den folgenden 100 Jahren fast 300 Missionare (vor allem nach Indien) aussandte.

  • 1828 kam es zur Gründung der Rheinischen Mission (heute VEM). 1830 gingen die ersten Missionare nach Südafrika, später auch nach Namibia, China und Indonesien. Ludwig Nommensen (1834-1918) gründete als Missionar der Rheinischen Mission eine lebendige lutherische Volkskirche unter den Batak im muslimischen Indonesien.

  • 1836 Gründung der Norddeutschen Mission, die bis heute im westafrikanischen Togo und Ghana eine kleine hingebungsvolle Arbeit betreibt.

Gemeinsam war den klassischen Missionsgesellschaften, dass sie nicht im Auftrag irgendeiner Kirche handelten. Daher lag es auch nicht in ihrer Absicht Außenstellen der Heimatkirchen zu gründen, sondern es ging ihnen einfach um die Bekehrung von Heiden. Daher konnte man auch sehr gut überdenominationell und international zusammenarbeiten. Die klassischen deutschen Missionsgesellschaften waren somit zunächst nicht durch ihre Konfession, sondern durch ihre regionale Aufteilung gekennzeichnet. In Süddeutschland unterstützten die erweckten Christen die Basler Mission, im Osten die Berliner Mission, im Westen die Rheinische Mission und Norden die Norddeutsche Mission. Die Missionare arbeiteten auf dem Missionsfeld mit Anglikanern, Reformierten, Lutheranern und Freikirchlern zusammen. Als sich aber die englischen Missionsgründungen immer stärker organisatorisch den verschiedenen englischen Kirchentümern anglichen, entstand in Deutschland die Frage, welches theologische Bekenntnis eigentlich an den deutschen Missionsseminaren unterrichtet werden sollte?

Parallel entdeckten weite Kreise der deutschen Erweckungsbewegung ihren konfessionellen Hintergrund. Es entstand eine Neubesinnung auf das lutherische bzw. reformierte Erbe. Nun wurde Mission verstärkt auch als Anliegen von Kirchengemeinden getragen. In diesen Kreisen wuchs der Wunsch, eigene Missionare nun auch bewusst in der konfessionellen Tradition zu prägen. Daher entstanden in einer zweiten Phase nach den klassischen überkonfessionellen Missionsgesellschaften nun die konfessionellen Missionen:


Die Leipziger Mission (1836)

In Sachsen gab es schon seit 1819 einen Hilfsverein für die Basler Mission. 1832 entstand in Dresden dazu eine kleine Missionsschule. Als sich 1834 zwei dieser Zöglinge weigerten, nach zur weiteren Ausbildung nach Basel zu gehen, weil sie einen calvinistischen Einfluss auf ihren lutherischen Glauben befürchteten, gründete man 1836 in Dresden eine eigene betont lutherische sächsische Missionsgesellschaft, die 1848 nach Leipzig verlegt wurde. Ihre Prinzipien waren:

  • Gründung von lutherischen Bekenntnisgemeinden in Übersee

  • Förderung eines ersten deutschen Lehrstuhls für Missionswissenschaft

  • Ziel, dass jede deutsche lutherische Gemeinde einen Missionar unterstützt.

  • Jeder Missionar braucht ein abgeschlossenes Theologiestudium, eine Zusatzausbildung (in Leipzig) und einen Freundeskreis.

  • Genaue Kulturelle Anpassung der Missionsarbeit

  • Man übernimmt offiziell die Arbeiten der Dänisch-Hallischen Mission.

Die Leipziger Mission erhielt ihre entscheidende Prägung durch ihren Leiter Karl Graul. Um sich ein besseres Bild von den Anforderungen im Missionsland und von der tamilischen Kultur zu machen, ging er von 1849-1853 selbst nach Indien. Er analysierte seine Erfahrungen nach seiner Heimreise in einem fünfbändigen Werk, in dem er versuchte Missionsarbeit und Wissenschaft zu verbinden. Noch kurz vor seinem Tod habilitierte er in Missionswissenschaft.


Die Neuendettelsauer Mission (1841)

Wilhelm Löhe (1808-1872) wurde 1837 lutherischer Pfarrer im kleinen fränkischen Ort Neuendettelsau, von dem er vorher gesagt hatte: „Nicht tot möchte ich in dem Neste sein!“ Als er hörte, dass deutsche Lutheraner in Nordamerika geistliche Unterstützung brauchen, gründete er 1841 eine eigene Ausbildungsstätte, aus der später Missionare nach Amerika, Australien und Neuguinea gesandt wurden. 1854 gründete er auch ein Diakonissenhaus.


Die Hermannsburger Mission (1849)

Ludwig Harms (1808-1865) übernahm 1849 die Pfarrstelle seines Vaters in seinem Heimatort Hermannsburg in der Lüneburger Heide. Davor hatte er sich lange mit dem Gedanken getragen selbst Missionar zu werden, nun als Pfarrer predigte er so leidenschaftlich für die Mission, dass sich schon nach kurzer Zeit einige junge Männer zum Missionsdienst meldeten. Deshalb eröffnete er noch im selben Jahr in Hermannsburg mit 12 Kandidaten ein Missionsseminar, das von den erweckten Kreisen der Umgebung finanziell und im gebet getragen wurde. 1857 wurden die ersten 12 Missionare ordiniert. Die Missionare gingen vor allem (bis heute) nach Südafrika um dort lutherische Gemeinden aufzubauen.


Die Breklumer Mission (1876)

Christian Jensen (1839-1900) wurde 1873 lutherischer Pastor im schleswig-holsteinischen Breklum. Hier orientierten sich die Missionsfreunde zunächst nach Basel, dann nach Leipzig und Neuendettelsau. Seit der Gründung Schleswig-Holsteins 1864 wuchs hier der Wunsch nach einer eigenen Missionsgesellschaft, die 1879 durch Jensen gegründet wurde. Die Missionare gründeten vor allem in Indien lutherische Gemeinden.

Die Entstehung der Gemeinschaftsbewegung


Die Lage in Deutschland um 1875

Licht und Schatten der “Gründerzeit”

In Deutschland kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem nach den preußischen Siegen über Österreich (1866) und Frankreich (1871) und der Reichsgründung (1871) zu großem Reichtum. Diese Zeit wurde rückblickend oft als Gründerzeit bezeichnet, viele Betriebe und Industriezweige entstanden, vor allem setzte abermals eine große Bewegung der Verstädterung ein. Mit Macht holte Deutschland nun alle Rückständigkeit gegenüber dem Ausland ein. Die Folge waren viele soziale Umbrüche, vor allem in den Städten fehlte es oft an einer ausreichenden kirchlichen Versorgung. Einige Gebiete Deutschland wie Württemberg, Minden-Ravensberg, das Siegerland und Franken waren nachhaltig von der Erweckung geprägt und wiesen ein reges geistliches Leben auf. Prominente Persönlichkeiten wie der Reichskanzler Otto von Bismarck entstammten der Erweckungsbewegung, und auch das Hohenzoller Kaiserhaus stand dem konservativ-erwecklichen Pietismus nahe. Doch die dynamische Erweckungsluft der 1820er und 30er Jahre war verflogen, die pietistischen Kreise hatten hauptsächlich ein konservativ bewahrendes Gepräge.
In der Universitäts-Theologie übernahm nun ganz eindeutig die liberale Theologie die Vorherrschaft: Die Schule um Albrecht Ritschl dominierte an den deutschen Hochschulen, die radikale Bibelkritik setzte sich fast überall durch. Konservative Außenseiter wie Martin Kähler, Adolf Schlatter und die Erlanger Theologen konnten nicht verhindern, dass in Deutschland hundertfach junge Leute aus Erweckungsgebieten ins Studium zogen, um danach mit verlorenem oder gebrochenem Glauben in Pfarramt zu gehen.
Ideologisch gewannen in dieser Zeit weitgehend antireligiöse geistige Strömungen das intellektuelle Übergewicht. Die Religionskritik von Ludwig Feuerbach wurde von vielen als vernichtender Schlag gegen das Christentum empfunden. Verbreitert wurde sie noch vom Marxismus, der auf die Arbeiterschaft wie auf radikale Intellektuelle eine wachsende Faszination ausübte. Andere mehr bürgerliche Kreise fanden Trost in der skeptisch-ästhetischen Philosophie Arthur Schopenhauers oder im heroisch-amoralischen Pathos Friedrich Nietzsches. Vor allem auch der Darwinismus sorgte für ein weitere erdrutschartiges Anwachsen des Materialismus und Atheismus.
Der wirtschaftliche Aufbruch der Gründerzeit sorgte auf seine Weise für eine Abwendung von religiösen Antworten. Er brachte gleichermaßen Massenelend und ungeahnten Wohlstand. Beide konnten stärker fesseln als die Frage nach dem ewigen Heil.
All diese negativen Entwicklungen lagen vielen Pietisten schwer auf der Seele. Vielfach wurde das Bedürfnis nach neuer Erweckung empfunden. Der Impuls dazu kam aus drei verwandten Strömungen: der angloamerikanischen Heiligungsbewegung, der Evangelisationsbewegung und der Heilungsbewegung.

Die Heiligungsbewegung

Angloamerikanische Wurzeln

Die Wurzeln der späteren Heiligungsbewegung liegen in der Theologie des Begründers des Methodismus John Wesley (1703-1791). Dieser hatte gelehrt, dass der Christ nach der Rechtfertigungserfahrung durch einen längeren Prozess im Glauben weiter fortschreiten könne bis zur Stufe der „Christlichen Vollkommenheit“, d.h. dem Unterlassen jeder bewussten willentlichen Sünde.In den 1830er Jahren wurde diese wesleyanische Heiligungslehre in den USA immer populärer, wobei sehr unterschiedliche Ansichten darüber vertreten wurden, wie man die Stufe der vollkommenen Heiligung erreichen kann, ob allein durch Gottes Gnade oder durch bewusste Willensanstrengung, ob in einem langsamen Prozess oder durch ein plötzliches Erlebnis, der „Geistestaufe“.Als prägende Persönlichkeit wirkte Charles Finney (1792-1875). Er war ursprünglich Rechtsanwalt und erlebte beim Bibelstudium 1821 eine Bekehrung, die stark von einem eigenen Willensentschluss geprägt war. Dies führte bei ihm zu der Überzeugung, dass der Mensch mit absolut freiem Willen selbst über Heil und Unheil seines Lebens entscheiden kann. Nun erwarb er sich theologische Erkenntnisse im Selbststudium begann 1824 mit evangelistischen Freiversammlungen, die für großes Aufsehen sorgten. Finney ging (im Gegensatz zu dem in den USA dominierenden Calvinismus!) davon aus, dass jeder Mensch eine willentliche Entscheidung für Jesus fällen kann, auf die Gott zwingend mit der Wiedergeburt antworten wird. Er hielt erfolgreiche Massenevangelisationen, in denen er zur Bekehrungen aufrief, die durch Handheben oder Nachvornekommen dokumentiert wurden. Finney fasste seine Einsichten in seinen Vorlesungen über Erweckung zusammen, die bis heute klassischen Rang haben. Starke Betonung legte er darin auf die einer Erweckung vorangehende Buße unter Christen, die sich in einem vertieften Gebetsleben niederschlägt. Dabei betonte Finney die Vorstellung, dass Erweckung jederzeit machbar sei, wenn bestimmte Vorbedingungen erfüllt würden. Statt der göttlichen Souveränität sah er also immer die menschliche Entscheidung als maßgeblichen Faktor an. Ab 1835 wirkte Finney als Theologieprofessor in Oberlin/Ohio. Mit Asa Mahan (1800-1889) zusammen begründete er die Oberlin-Theologie, welche die Heiligung als zweite Stufe nach der Rechtfertigung beschrieb (ähnlich wie Wesley). Damit wurde er wesentlicher Impulsgeber der amerikanischen Heiligungsbewegung. Systematisch wurde diese Linie weitergeführt von William Boardman (1810-1886), der in seinem weit verbreiteten Buch The Higher Christian Life (1858) die Ansicht vertrat, dass es bei der Heiligung nicht um eine völlige Ausrottung von inneren sündigen Neigungen geht, sondern allein um das ständige Bleiben in Jesus. Boardman wurde der Förderer des Ehepaars Robert Pearsall Smith (1827-1898) und Hannah Whitall Smith (1832-1911), die sich der Heiligungsbewegung angeschlossen hatten und mit ihm zusammen für die Heiligungslehren warben. In den USAkam es nach dem Bürgerkrieg 1865 zu den ersten großen konfessionsübergreifenden Heiligungsversammlungen. Diese Heiligungsbewegung organisierte sich 1867 in der „National Camp Meeting Association for the Promotion of Holiness“, sie führte zur Erneuerung vieler bestehender Denominationen und schließlich auch zu neuen Kirchengründungen (Gemeinde Gottes, Kirche des Nazareners, Heilsarmee, usw.).


Die Heiligungsbewegung kommt über England nach Deutschland

Robert Pearsall Smith schrieb 1870 das einflussreiche Buch „Holiness through Faith“ und reiste 1873 zu einem Kuraufenthalt nach Europa. Als sich seine Gesundheit festigte, begann er in England, Irland und Frankreich 3-4-tägige Meetings abzuhalten. Auf Wunsch einiger Studenten in Cambridge fand im Juli 1874 ein Heiligungstreffen mit ungefähr 150 Personen auf dem Privatgelände Broadlands Park unter der geistlichen Leitung der Ehepaare Boardman und Smith statt, bei dem man beschloss, die dortigen geistlichen Erfahrungen einem größeren Personenkreis nahe zu bringen. Deshalb veranstaltete man vom 29.8.-7.9.1874 in Oxford das Oxford Union Meeting for the Promotion of Scriptural Holiness, eine Heiligungskonferenz mit 1500 Teilnehmern, an der auch ca. 20 deutsche und schweizer Theologen teilnahmen (darunter Rappard, Stockmayer und Jellinghaus). Carl Heinrich Rappard (1837-1909), der Leiter der Pilgermission St. Chrischona, der an den „Segenstagen von Oxford“ die Erfahrung der Heiligung durch den Glauben gemacht hatte, trug die Anliegen der Bewegung in die Schweiz und nach Süddeutschland, indem er Versammlungen im Stil der Oxford-Konferenz abhielt, Schriften von Smith in deutscher Sprache publizierte und die Heiligungszeitschrift „Des Christen Glaubensweg“ publizierte. Damit bereitete er eine fünfwöchige Vortragsreise Smiths im April/Mai 1875 quer durch Deutschland und die Schweiz vor, die für viel Aufsehen vor allem im Landeskirchlichen Bereich sorgte. Smith predigte vor Tausenden von Zuhörern in Berlin, Basel, Stuttgart, Karlsruhe, Frankfurt und im Wuppertal, wurde von Dr. Friedrich Wilhelm Baedeker übersetzt und von dem Methodisten Ernst Gebhardt musikalisch unterstützt. Vom 29.5.-7.6.1875 fand eine zweite Heiligungskonferenz in Brighton statt, an der es unter den 8000 Besuchern auch 200 deutsche Teilnehmer gab (darunter auch der später einflussreiche Evangelist Elias Schrenk und der Missiologe Gustav Warneck!). Die Kraft der Bewegung lag weniger in einer neuartigen Lehre als in dem Eindruck des praktisch gelebten Glaubens der Redner. Gerade angesichts mancher eingefahrener und traditionsbeladener Verhältnisse in der Heimat waren viele deutsche Pfarrer beeindruckt.Kurze Zeit nach der Konferenz wurde Smith allerdings mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe in einem seelsorgerlichen Gespräch die unbiblische Geheimlehre einer spürbaren Verlobung mit Jesus vertreten und außerdem die betreffende Dame sexuell belästigt. Smith stritt Letzteres ab und sagte sich auch von seiner Sonderlehre los. Dennoch wurde er vom Leitungskomitee der Brightoner Konferenz zur Aufgabe jeder weiteren Lehrtätigkeit in England gedrängt. Smith ging daraufhin mit seiner Familie wieder in die USA und zog sich als gebrochener Mann ins Privatleben zurück. Das Ausscheiden Smiths schien zunächst die Heiligungsbewegung in Deutschland zu stoppen, mit der Zeit aber merkte man, dass bleibende Einflüsse sich Bahn machten. Bis 1875 hatte der Versuch, angelsächsische Frömmigkeit nach Deutschland zu übertragen, nur zur Bildung von Freikirchen (Baptisten und Methodisten) geführt, die man aber selbst in erweckten Kreisen als Sekten scharf ausgrenzte. Erst die von Pearsall-Smith angestoßene Oxford- oder Keswick-Bewegung bewirkte, dass zum ersten mal angelsächsische Einflüsse in breitem Maße im landeskirchlichen Raum aufgenommen wurden. Sie wurde zum Orientierungspunkt für viele, die sich nach einer innerkirchlichen Erneuerung sehnten, und das Anliegen einer tieferen persönlichen Heiligung führte zur Bildung von Landeskirchlichen Gemeinschaften.Neben Rappard wurde vor allem Otto Stockmayer (1838-1917) der wohl einflussreichste Prediger und Seelsorger der deutschen Heiligungs- und damit auch der Gemeinschaftsbewegung. Tief überzeugt von der Macht der Sünde kam er zu der Überzeugung, dass nicht mehr nur eine einfache Lebensübergabe der Weg zur Freiheit von der Sündenmacht sei, sondern ein Lebensweg, der durch immer tiefere Reinigungen und Gerichte führt. Dabei betonte er, dass es nicht um Gefühle, sondern immer nur um geistliche Realitäten geht. Jesus soll unser Leben in die Hand bekommen, was nur durch die „Zerbrechung des Eigenlebens“ geschehen kann. Beeinflusst durch die dispensationalistischen Anschauungen John Nelson Darbys (Brüdergemeinden) entwickelte Stockmayer auch die Sonderlehre einer vorzeitigen Entrückung einer Auswahlgemeinde. Die Zubereitung dieser Braut des Lammes wurde fortan einer der mächtigsten Antriebe seiner Heiligungslehre. Nur Durchgeheiligte könnten zu dieser Überwinderschar gehören, ein Status, für den er bei der Mehrheit der Christen keine Hoffnung hatte. 1909 hatte Stockmayer allerdings die Größe, diese Elitenvorstellung zu widerrufen.Stockmayer besaß auch nach seinem Tod noch jahrzehntelang überragende Bedeutung für die Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung. Theophil Krawielitzki hat dafür gesorgt, dass insbesondere der DGD sich in den ersten Jahrzehnten theologisch ganz auf Stockmayers Linien entwickelt hat.Im Bereich des Gnadauer Verbandes können neben dem DGD auch die Werke in St.Chrischona, Bad Liebenzell und die Deutsche Zeltmission auf dieser Linie gesehen werden.Für das theologische Fundament der deutschen Heiligungsbewegung sorgte die zweibändige Dogmatik von Theodor Jellinghaus (1841-1913) Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum (1880). Jellinghaus versuchte in seinem als „Heilismus“ bezeichneten System, die Oxfordlehren mit reformatorischen Einsichten zu verbinden. Allerdings löste er schon in der Rechtfertigungslehre das objektive extra nos auf zu einem realen Mit-Christus-zusammengefügt-sein. Die Zweistufen-Auffassung von Rechtfertigung und Heiligung wurde im Wesentlichen festgehalten. Nachdem Jellinghaus 1905 psychisch krank geworden war, vollzog er einen deutlichen Gesinnungswandel. Er erklärte 1911 öffentlich, die Grundgedanken seines Buches nicht mehr vertreten zu können, da er die Macht der Sünde unterschätzt habe und perfektionistischen Entwicklungen dadurch Vorschub leistete. Abschließend muss gesagt werden, dass die Heiligungsbewegung wesentlichen Einfluss auf die Gemeinschaftsbewegung ausübte, ohne den sie nicht vorstellbar gewesen wäre. Neben der Heiligungsbewegung ist aber unbedingt die Evangelisationsbewegung als zweiter starker Flügel zu sehen.

Die Evangelisationsbewegung

Nachdem in den 1870er Jahren die geistliche Erneuerung in Deutschland sich hauptsächlich auf das Thema Heiligung konzentriert hatte, kam ab 1880 das Thema Evangelisation als zweiter Schwerpunkt hinzu, so dass die Gemeinschaftsbewegung schon bald auch als regelrechte Evangelisationsbewegung wahrgenommen wurde. Auch dafür kamen die entscheidenden Impulse wieder aus den USA, wo schon Charles Finney als Heiligungstheologe und Berufsevangelist beides integriert hatte.

Die wichtigste Persönlichkeit der Evangelisationsbewegung war Dwight L. Moody (1837-1899). Er hatte in Chicago eine große CVJM-Arbeit begonnen, die er ab 1860 vollzeitlich ausübte. Seinen eigentlichen Durchbruch erlebte er jedoch in Großbritannien, wo er in den Jahren 1873-75 groß angelegte mehrwöchige Massenevangelisationen durchführte. Dabei wurde er von dem Sänger Ira Sankey begleitet, der die Botschaft musikalisch unterstützte. In den folgenden Jahren startete Moody auch in Irland und in den USAriesige Kampagnen, die in vielen Großstädten oft monatelang dauerten, und wahrscheinlich zu Millionen von Bekehrungen führten.

Ab 1880 betonte Moody dann auch das Thema Heiligung noch stärker. Er lud seine Bekehrten zu speziellen Heiligungskonferenzen ein und organisierte ab 1886 Studentenkonferenzen in Mt. Hermon, bei denen zur totalen Hingabe für die Weltmission aufgerufen wurde.

In Deutschland gab es vor 1875 zwar in vielen Kreisen der Inneren Mission ein evangelistisches Bewusstsein, welches sich aber nur in der Form äußerte, dass man durch ein vielfältiges Mühen versuchte, Einzelne wieder in das kirchliche Leben zu integrieren. Die großen Evangelisationserfolge Moodys in England ließen bei vielen nun die Sehnsucht wach werden, auch in Deutschland ähnliche Massenaufbrüche zu erleben. Nachdem Robert Pearsall Smith bei seiner Vortragsreise durch Deutschland im Frühjahr 1875 vor großen Versammlungen nicht nur zur Heiligung, sondern auch zur völligen Hingabe im Sinne einer ersten Bekehrung aufgerufen hatte, wuchs hier die Sehnsucht nach organisierter evangelistischer Arbeit in Deutschland.

Der Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb (1833-1889) war der erste, der die konkreten Planungen vorantrieb. Er war davon überzeugt, dass die Evangelische Kirche vor allem auch deshalb freikirchlich-amerikanische Methoden integrieren muss, um der Abwanderung von Kirchenmitgliedern zu den Methodisten entgegen zu wirken. Deshalb holte er 1882 den deutschstämmigen amerikanischen Evangelisten Friedrich von Schlümbach (1842-1901) um in Berlin fünf Monate lang systematisch zu evangelisieren. Dadurch ermutigt wurde 1884 der Schwabe Elias Schrenk (1831-1913) als erster Berufsevangelist Deutschlands fest angestellt. Schrenk war Missionar in Afrika gewesen, musste diesen Dienst aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. 1874/75 lebte er in England, wo er in der Begegnung mit Moody und Sankey endgültig zur Gewissheit kam, sich künftig der Evangelisation in Deutschland zu widmen. Er nahm auch an der Heiligungskonferenz in Brighton 1875 teil und hatte dort ein entscheidendes Heiligungserlebnis. Von 1884-1913 führte Schrenk in Deutschland nach Moodys Vorbild ca. 400 systematisch geplante Evangelisationen in meist säkularen Räumen durch, für die schon im Vorfeld intensiv durch Anzeigen, Plakate und Handzettel geworben wurde (was bis dahin in Deutschland unüblich war). Meistens dauerten die Evangelisationen 14 Tage, es gab ein „Rahmenprogramm, eine einstündige evangelistische Ansprache, und „Nachversammlungen“.

Zur Koordination der evangelistischen Bemühungen in Deutschland wurde 1886 auf Anregung von Theodor Christlieb der Deutsche Evangelisationsverein gegründet, der noch im gleichen Jahr eine eigene Ausbildungsstätte für Berufsevangelisten (die keine Pfarrer waren!) initiierte, die Evangelistenschule Johanneum (erst Bonn, dann Wuppertal).

Neben Schrenk traten bald andere deutschen Evangelisten, in erster Linie Samuel Keller, der eine immense literarische und evangelistische Tätigkeit entfaltete. Ferner ist der Chrischona-Absolvent und Begründer der Deutschen Zeltmission Jakob Vetter zu nennen, der 1902 mit groß angelegten Zelteinsätzen begann. Der bekannteste deutsche Evangelist in der Generation nach Schrenk wurde Ernst Modersohn (1870-1948). Die Erfolge der Evangelisationen führten zu vielen Versammlungen von Bekehrten, die zum größten Teil als Landeskirchliche Gemeinschaften organisiert wurden. Ähnliche Parallelentwicklungen gab es aber auch im freikirchlichen Bereich.

Neben den Großevangelisationen entwickelten sich vielfältige Formen von evangelistischer Zielgruppenarbeit. Im Bereich der Jugendarbeit kam es 1883 in Berlin zur Gründung des ersten deutschen CVJM und 1894 zum ersten deutschen EC-Jugendbund in Bad Salzuflen. Insbesondere diese Bewegung des Jugendbunds für Entschiedenes Christentum (EC) prägte viele tausend Jugendliche mit der Theologie der Heiligungsbewegung. 1883 kam es auch zur Gründung des ersten Schülerbibelkreises und 1890 wurde die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV) gegründet, was später in die Arbeit der heutigen SMD mündete. Daneben entstanden für vielerlei Berufsgruppen spezielle evangelistische Vereine (Postbeamte, Bäcker, Soldaten, Seemänner usw.).

Alle Evangelisten der Gemeinschaftsbewegung waren dabei überzeugte Anhänger der Heiligungsbewegung. Für sie waren „Seelenrettung“ (Evangelisation) und „Seelenpflege“ (Heiligung) eine untrennbare Einheit. Es galt der Grundsatz, dass jeder in der Heiligung lebende Christ sich automatisch auch als Evangelist versteht. Gelebte Heiligung sollte sich geradezu darin erweisen, dass man von Gott im evangelistischen Dienst gebraucht wurde. Nur aufgrund dieser evangelistischen Leidenschaft vieler Gemeinschaftsleute konnten die Massenevangelisationen überhaupt funktionieren, da so genügend Mitarbeiter für die Vorbereitung, Durchführung und Nacharbeit bereitstanden.

Die Heilungsbewegung

Neben den beiden großen Themen Heiligung und Evangelisation muss das Thema „Krankenheilung“ als dritter Schwerpunkt der geistlichen Erneuerung gegen Ende des 19.Jahrhunderts betont werden, so dass man teilweise sogar von einer gesonderten „Heilungsbewegung“ sprechen kann.

Bedeutender Vorläufer der Heilungsbewegung in Deutschland war Johann Christoph Blumhardt (1805-1880). Als Pfarrer von Möttlingen erlebte er einen Durchbruch in der Seelsorge an der okkult belasteten Gottliebin Dittus, welcher zu einer großen geistlichen Bewegung in Württemberg führte. Blumhardt hatte die Gabe der Krankenheilung und gründete 1852 in Bad Boll ein Heilungszentrum mit 150 Plätzen in dem viele gut bezeugte Heilungen körperlich kranker Menschen durch Seelsorge und Gebet geschahen. Blumhardt hatte eine durchaus nüchterne Sicht für die Realität von Glaubensheilungen, arbeitete selbstverständlich auch mit Ärzten zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass sich zum Teil auch schwärmerische Erwartungen an sein Wirken knüpften. Er selbst betonte noch nicht so sehr die Heiligung des Menschen als Heilungsvoraussetzung, sondern er war einfach überzeugt, dass der Sieg Jesu über die gefallene Welt sich durchsetzen wird.

Die erste Krankenheilerin im Sinne der Heiligungsbewegung war Dorothea Trudel (1813-1862) aus Männedorf in der Schweiz. Sie war überzeugt davon, dass die vollkommene Heiligung auch körperliche Auswirkungen haben muss, so dass Krankheiten (die immer ein Ausdruck von Sünde sind!) verschwinden werden! Seit 1851 führte sie am Zürichsee ein geistliches Erholungsheim, in dem es durch ihr Gebetswirken zu unzähligen Glaubensheilungen kam. Im gleichen Sinn wirkte dort ihr Nachfolger Samuel Zeller (1834-1912). Viele führende Gemeinschaftsleute wie Stockmayer, Schrenk und Seitz bezeugten, hier Heilung von Krankheitsnot gefunden zu haben. Daneben entstanden eine Fülle von weiteren so genannten „Erholungsheimen“, in welchen mal radikaler, mal gemäßigter die Botschaft der Glaubensheilung durch völlige Hingabe an Gott gepredigt wurde. Dadurch verbreitete sich in Teilen der deutschen Gemeinschaftsbewegung die Überzeugung, dass man als geheiligter Christ auf ärztliche Hilfe und Medikamente völlig verzichten könne. Vor allem Otto Stockmayer setzte diese Linie dann in seinem einflussreichen Erholungsheim in Hauptwil seit 1878 fort. Später wurde vor allem Johannes Seitz (1839-1922) ein bekannter Vertreter der Glaubensheilung, der im Jahr 1900 in Teichwolframsdorf in Sachsen ein Erholungsheim mit 100 Zimmern eröffnete.

Generell wurde betont, dass Menschen nicht „gesundgebetetâ€? werden, sondern einfach seelsorgerlich ermutigt, im Glauben auch ihren Leib völlig dem Herrn anzubefehlen. Es wurde von allen Vertretern festgehalten, dass Gott frei ist, Krankheiten auch als Züchtigungen zuzulassen. Außerdem war man überzeugt, dass Heilungen in den inneren Kreis der Gemeinde Jesu gehören. Heilungserfolge wurden nicht für die evangelistische Außenwerbung genutzt.

Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild der Heilungsbewegung. Auf der einen Seite muss man die Suche nach Wegen zur alternativen Krankenheilung auf dem Hintergrund der katastrophalen medizinischen Versorgung im 19.Jahrhundert würdigen als eine starke soziale Komponente der Heiligungsbewegung. Kranke wurden unbürokratisch in die Erholungsheime aufgenommen, auch wenn sie keine Christen waren und nur wenig Geld zur Verfügung hatten. Für viele ärztlich gesehen hoffnungslose Fälle war dies eine wichtige Form ganzheitlicher Betreuung.

Problematisch war aber der Gedanke, Gott allein als Arzt des Christen zu bezeichnen. Stockmayer z.B. gestand anderen die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zu, für sich selbst blieb er jedoch dabei, dass Gott ihn durch Krankheiten züchtigen so wie er sich durch Heilungen verherrlichen dürfe. Leider kam es aber durch solche Überzeugungen immer wieder auch zu tragischen Todesfällen. So lehnte z.B. auch der Gründer des Vandsburger Werkes, Ferdinand Blazejewski, im Mai 1900, als er schwer erkrankte, jegliche ärztliche Hilfe mit dem Hinweis „Ich hab meinen Arzt!“ ab und verstarb.

Dadurch kam es auch im Bereich der Gemeinschaftsbewegung immer wieder zu offener Kritik an überzogenen Heilungserwartungen, vor allem, wenn Menschen, die nicht geheilt wurden, implizit oder explizit deutlich gemacht wurde, dass dies nur an ihrem mangelndem Glauben liegen könne.
Dabei gab es wie in der Frage der Heiligung auch, große theologische Unterschiede in Bezug auf die Heilungserwartungen. Gruppierungen, die wie die Keswick-Bewegung eher von einem langsam wachsenden Heiligungsprozess ausgingen, erwarteten auch bei Krankheiten eher langsame Heilungsprozesse. Andere, welche eine spontane Geistestaufe lehrten, vertraten eher die Erwartung von plötzlichen Heilungen. Ein Teil der führenden Gemeinschaftsleute stand dem gesamten Thema Glaubensheilung sowieso eher distanziert gegenüber (Rappard, Pearsall Smith usw.).

Interessant ist, dass in der Frage der Glaubensheilungen die Impulse nicht aus dem angloamerikanischen Bereich kamen, sondern sich im deutschsprachigen Bereich eigenständig entwickelt haben und von hier aus in die USA und nach England exportiert wurden. 1873 reisten die Amerikaner Charles Cullis und William Boardman (der theologische Impulsgeber der Heiligungsbewegung!) nach Europa um die Heilungsbewegung kennen zu lernen. Bei Cullis führte dies zu einer intensiven Heilungsarbeit in Boston, und Boardman schrieb 1881 das Buch „The Lord that Healeth Thee“ in dem er die theologischen Grundlagen für die Glaubensheilung entwickelte. 1882 eröffnete er in London „Beth-Shan“ (Haus der Ruhe) das bekannteste Erholungsheim Englands, bei dem neben dem Gebet um Heilung allerdings auf Medikamente nicht verzichtet wurde.

Das Thema Glaubensheilung trat in der deutschen Gemeinschaftsbewegung ab 1910 dann stark in den Hintergrund. Dies lag daran, dass das Thema gemeinsam mit allen anderen körperlichen Manifestationen des Heiligen Geistes schon bald als etwas „pfingstlerisches“ betrachtet wurde, von dem man sich mehr und mehr distanzierte. Durch den Bruch zwischen Pfingstbewegung und Gemeinschaftsbewegung um 1910 sortierten sich somit auch die Befürworter und Gegner der Heilungsbewegung, so dass im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert das Thema Glaubensheilung nur noch als ein typisch pfingstlerisches oder charismatisches Thema betrachtet wurde.

Die Gründung der organisierten Gemeinschaftsbewegung

In den 1880er Jahren kam es allmählich zu einer organisatorischen Gestaltwerdung der Gemeinschaftsbewegung. Nach vorbereitenden Sitzungen unter der Führung von Theodor Christlieb und Elias Schrenk wurde zu einer Pfingstkonferenz 1888 im Predigtsaal der Herrnhuter Brüdergemeine von Gnadau bei Magdeburg eingeladen, um die innerkirchliche Erneuerung unter dem Blickwinkel der Themen Evangelisation und Heiligung zu stärken. Damit sollte unter anderem auch bewusst verhindert werden, dass die Heiligungsbewegung zu Abwanderungsbewegungen zu den Freikirchen führt. Alle zwei Jahre fanden nun diese „Gnadauer Pfingstkonferenzen“ mit theologisch klärenden und richtungsweisenden Vorträgen statt (ab 1906 dann jährlich). 1891 begann man mit der Herausgabe des Monatsblattes Philadelphia, welches die bestehenden und neu entstehenden Gemeinschaftskreise miteinander verband. 1897 kam es schließlich zur offiziellen Gründung des Deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflege und Evangelisation (kurz Gnadauer Verband) als Dachorganisation der mittlerweile vielfältig entstanden pietistischen Werke. Dabei war die deutsche Gemeinschaftsbewegung um die Jahrhundertwende durchaus kein homogenes Gebilde. Die innere Spannung entstand vor allem aus dem Gegensatz der beiden Hauptwurzeln der Bewegung, dem deutschen Altpietismus und der angelsächsischen Heiligungsbewegung. Erst ihre Verschmelzung brachte der Gemeinschaftsbewegung ihr eigenes Gepräge und unterschied sie von den Erweckungen vor 1870. Als kurze Beschreibung der eigenen Verhältnisbestimmung zur Kirche wurde im Laufe der Zeit die so genannte Christliebsche Formel zum geflügelten Wort: „In der Kirche, wenn möglich mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche.“

Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Identitätsstiftung der deutschen Gemeinschaftsbewegung stellte das 1892 zum ersten mal erschienene Reichsliederbuch dar, von dem bis 1930 ca. 2,4 Millionen Exemplare verkauft wurden. Hierin verband sich das Liedgut des deutschen Pietismus und der Erweckungsbewegung mit den Heilsliedern der angloamerikanischen Heiligungsbewegung. Nachdem es schon vorher weit verbreitet war, wurden die Reichslieder zum einheitlichen Liederbuch im Gnadauer Verband erklärt.


Besondere Merkmale der deutschen Gemeinschaftsbewegung

  • Die zweite große Erweckung des 19. Jahrhunderts bekam durch ihre organisatorische Zusammenfassung in der Gemeinschaftsbewegung eine größere innere Geschlossenheit. Dies wurde wesentlich durch die Gründung des Deutschen Reiches 1871 erleichtert.
     

  • Die Gemeinschaftsbewegung ist dadurch entstanden, dass die noch bestehenden altpietistischen Kreise der Erweckungsbewegung durch die Einflüsse der angloamerikanischen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung neu belebt und theologisch, sowie in der praktischen Arbeitsweise verändert wurden. Dies zeigte sich a. in der Arbeitsform der großen Konferenzen und Evangelisationen, sowie b. in einer viel stärkeren Betonung der Themen Evangelisation und Heiligung.
     

  • Ein großer Teil der Führer Gnadaus waren landeskirchliche Pfarrer; dennoch ergab sich eine viel größere Distanz zur verfassten Volkskirche als bisher. Offiziell dachten die allermeisten nicht daran, sich von der Kirche zu trennen, faktisch begann aber ein Weg zunehmender Verselbständigung der Gemeinschaftsarbeiten von den örtlichen Kirchengemeinden.
     

  • In politischer Hinsicht legte sich der Großteil der Gemeinschaftsbewegung große Zurückhaltung auf. Allgemeiner Kulturpessimismus (oft dispensationalistisch motiviert) und Furcht, sich zu sehr mit weltlichen Angelegenheiten zu beschäftigen, standen im Hintergrund.
     

  • Auch der Abstand zur Gegenwartskultur vergrößerte sich. Viele Kreise waren von prinzipieller Abgrenzung beherrscht, vor allem das Tanzen gewann Symbolcharakter, aber auch Alkohol und Tabak wurden oft prinzipiell abgelehnt. Man entfernte sich dadurch allerdings von der Lebenswelt der entkirchlichten Massen und es kam zu keinem evangelistischen Durchbruch.
     

  • Zur Theologie bekamen die Gemeinschaftskreise zum allergrößten Teil überhaupt kein Verhältnis. Die Nähe zu positiv-konservativen Theologen wurde kaum gesucht. Ein so genannter „Eisenacher Bund“ von gläubigen Theologieprofessoren versuchte seit 1902 vergeblich dem entgegenzusteuern. Auch die eigenen Ausbildungsstätten legten lange nur geringen Wert auf eine gründliche theologische Ausbildung. Theologiekritik konnte sich bis hin zu Aussagen wie „Alle Theologie ist Gift“ steigern. Damit verloren die Gemeinschaftskreise endgültig die Verbindungen zu gläubigen Theologen in Kirche und Universität — unmittelbar vor Beginn der Pfingstbewegung.

Neupietistische Missionsgesellschaften: Die Glaubensmissionen


1. Die Heiligungsbewegung als Wurzel der Glaubensmissionen

Die Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte die klassischen Missionsgesellschaften hervor. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es dann aber zu Neugründungen von ganz andersartigen Missionsgesellschaften, die man als „Glaubensmissionen“ bezeichnet. Sie waren geprägt von Frömmigkeit und Theologie der so genannten Heiligungsbewegung. Diese hatte ihre Wurzeln in John Wesleys Lehre, dass der Christ nach der ersten Stufe der Rechtfertigung auch noch eine zweite Stufe der Heiligung erreichen müsse, in der es kein bewusstes Sündigen mehr gebe. Der amerikanische Evangelist Charles Finney (1792-1875) führte diesen Ansatz um 1830 zur Lehre vom so genannten „Higher Christian Lifeâ€? weiter, indem er die Meinung vertrat, dass sich der Mensch mit freiem Willen nicht nur bekehren, sondern auch für ein weiteres Heiligungsleben entscheiden muss. Erst darin komme das Christsein zu seiner eigentlichen Bestimmung. Diese Lehre führte seit den 1850er Jahren in den USA zu einer konfessionsübergreifenden Erweckung, die man als die angloamerikanische Heiligungsbewegung bezeichnet. Der Eintritt in diese zweite Stufe eines geheiligten Lebens wurde dabei von vielen mit einem spontanen, manchmal ekstatischen Gefühlserlebnis verbunden („the second blessing“). Systematisch wurde diese Linie weitergeführt von William E. Boardman, in seinem weit verbreiteten Buch The Higher Christian Life (1858) und vom Ehepaar Robert Pearsall Smith (1827-1899) und Hannah Whitall Smith (1832-1911). Sie führten 1874/75 große Heiligungskongresse in Oxford und Brighton durch. Eine zusätzliche Vortragsreise Smiths durch Deutschland im Frühjahr 1875 brachte die Heiligungsbewegung auch hier zum Durchbruch. Ihre Lehre, dass die Heiligung des Christen nicht durch ein tägliches Mühen gelingt, sondern durch eine totale Hingabe an Gott, auf die er mit einem kraftgebenden Erlebnis antworten wird, wurde von vielen als Befreiung angesehen. In solcher Weise erfüllt vom Heiligen Geist entstand nun auch in manchen Kreisen der Wunsch neue Glaubenswagnisse in Bezug auf die Äußere Mission anzugehen.


2. Die Vorläufer der Glaubensmissionen: Die Freimissionare

Zunächst trat das Phänomen auf, dass einzelne Persönlichkeiten sich voller Gottvertrauen auf eigene Faust auf den Weg in die Mission machten. Diese so genannten Freimissionare waren „Missionare aus charismatischem Selbstrecht“ (Klaus Fiedler). Sie fühlten sich unmittelbar von Gott gesandt und waren theologisch meist von der Brüderbewegung geprägt, das heißt, sie lehnten alle menschlichen Strukturen und Organisationen als Fehlwege ab. Die späteren Glaubensmissionen lassen sich als Korrektur dieser Individualisten verstehen.

Anthony Noris Groves (1795-1853) war ein Zahnarzt, der nach Persien ging und dort eine Bibelübersetzung anfertigte. Er lebte nach dem „Glaubensprinzip“, d.h. er verzichtete auf ein regelmäßiges Gehalt und bat nicht um Spenden, sondern vertraute allein darauf, dass Gott ihn als Antwort auf Gebete versorgen würde. Indirekt sollte damit ein moderner Gottesbeweis geschaffen werden. Groves’ Schwager Georg Müller (1805-1898) baute in Bristol eine Waisenhausarbeit auf diesem Glaubensprinzip auf, wobei allerdings seine regelmäßigen Berichte über die Not in den Waisenhäusern als indirekte Spendenaufrufe wirkten.

Der bekannteste deutsche „Freimissionar“ war Karl Gützlaff (1803-1851). Er wurde zunächst als Missionar bei Johannes Jähnicke auf dem Berliner Missionsseminar ausgebildet, ging dann mit der Rotterdamer Mission nach Java und lernte dort Chinesen kennen. Dies führte bei ihm zu dem intensiven Wunsch in China zu missionieren, was aber von seiner Missionsgesellschaft abgelehnt wurde. Daraufhin machte er sich selbständig und begann die Bibel ins Chinesische zu übersetzen. Auf einer chinesischen Dschunke unternimmt er 1831-33 drei Reisen entlang der chinesischen Küste, und gelangt schließlich tatsächlich in das ansonsten für Missionare verschlossene China. Dort bildet er in den Folgejahren 300 einheimische Evangelisten aus, die Bibeln und Traktate bis in weit entlegene Provinzen bringen. Dadurch wurde er zum entscheidenden Impulsgeber der China-Inland-Mission.


3. Hudson Taylor – Initiator der Glaubensmissions-Idee

Als eigentlicher Begründer der Glaubensmissionen gilt der Engländer (James) Hudson Taylor (1832-1905). Er gilt als einer der bedeutendsten Missionare aller Zeiten.

Taylor wuchs in einem frommen methodistischen Elternhaus auf und erzählte Besuchern schon mit vier Jahren, dass er China-Missionar werden wolle. Nachdem er sich mit 17 zunächst vom Glauben abgewandt hatte, bekehrte er sich noch im selben Jahr (1849). Nun bereitete er sich zielstrebig auf einen Weg nach China vor, indem er zunächst eine medizinische Ausbildung machte. In einer Offenen Brüdergemeinde ließ er sich taufen und übernahm dort Georg Müllers „Glaubensprinzip“, d.h. er vertraute in Mangelsituationen ganz auf Gebetserhörungen. Taylor war nun stark von der Theologie der Heiligungsbewegung geprägt und pflegte einen asketischen Lebensstil.

In einem Anatomiekurs infizierte sich Taylor lebensgefährlich an einer septischen Leiche und war in Todesgefahr, doch er wurde geheilt.

  • 1853 erreichte die (falsche!) Nachricht Europa, dass Hung, ein bekennender Christ, neuer Kaiser von China geworden sei und China nun zu einem christlichen Land machen wolle. Ohne, dass Taylor sein Medizinstudium beendet hatte, reiste er nun sofort mit der China-Evangelisations-Gesellschaft (CES) nach Shanghai aus. Dort kam er allerdings auf völlig unvorbereiteten Boden — mitten in einen Bürgerkrieg hinein. Er durchlebte eine tiefe Frustration, aber fing an Chinesisch zu lernen und auf den Flüssen mit einem Hausboot ins Landesinnere zu fahren, das noch nie ein protestantischer Missionar betreten hatte. Dort betreute er Chinesen ärztlich und verteilte Traktate. Als er bemerkte, dass die Bevölkerung mehr an seiner westlichen Kleidung und Lebensweise als an seiner Botschaft interessiert war, fing an sich (nach dem Vorbild der jesuitischen Missionare) chinesisch zu kleiden, und tatsächlich öffneten sich nun immer mehr Chinesen seiner Predigt. 1857 trennte er sich von seiner Missionsgesellschaft und schlug sich als Freimissionar in Ningpo durch. Nachdem er schon zwei gescheiterte Verlobungen mit jungen Damen aus England hinter sich hatte, traf er nun hier die Lehrerin Maria Jane Dyer, die er 1858 heiratete und die zu einer wichtigen Stütze seiner Arbeit wurde.
     

  • 1860 kehrten die beiden zu einem 5jährigen Heimataufenthalt zurück und Taylor schloss sein Medizinstudium ab. Nun begann er eine eigene Missionsgesellschaft aufzubauen und im Jahr 1865 konnte die China Inland Mission (CIM) offiziell gegründet werden. Als Mission nach dem Glaubensprinzip erhielten die Missionare kein regelmäßiges Gehalt und man unternahm keinerlei Spendenaufrufe. Die Mission wollte völlig abhängig von Gottes Fürsorge sein.
     

  • 1866 begann Familie Taylor mit 23 Missionaren die Arbeit in China. Zunächst kam es zu starken Spannungen innerhalb der Missionarsgemeinschaft, die nur durch den tragischen Tod von Taylors ältester Tochter wieder zusammen fanden. 1868 wurde das Missionshaus von Chinesen angegriffen und in Brand gesetzt, andere Missionare kritisierten die Arbeit Taylors heftig, die Unterstützung aus England bröckelte ab. In dieser äußerst angespannten Situation, die sogar zu Selbstmordgedanken führte, hatte Taylor 1869 eine entscheidende Heiligungserkenntnis, durch die er fortan gelassen und im völligen Vertrauen auf Jesus leben konnte. Dadurch konnte er es verkraften, dass 1870 zwei seiner Kinder und seine Frau Maria starben.

  • 1871 fuhr er für ein Heimatjahr nach England, brachte die verbliebenen drei Kinder in ein Internat und heiratete die Missionarin Jennie Faulding. In der Folgezeit wuchs die Arbeit der CIM unter großen Schwierigkeiten weiter. Die Missionare trugen einheimische Kleidung und Frauen wurden als Missionarinnen selbständig verantwortlich ausgesandt. Taylor war von der Überzeugung getrieben, dass jeden Tag über 1000 Chinesen verloren gingen, weil sie das Evangelium nie gehört hatten. Unermüdlich arbeitete er daran, in alle chinesischen Provinzen Missionare zu schicken, was bereits 1882 erreicht war. Das Ziel war dabei in erster Linie die Verkündigung der Botschaft. Ein zielgerichteter Gemeindeaufbau und eine strategische Mitarbeiterausbildung wurden zunächst als sekundär erachtet. 1895 waren bereits 640 Missionare der CIM in China unterwegs. Im Jahr 1900 kam es dann allerdings in China zum Boxeraufstand, bei dem ein kaiserlicher Erlass den Tod aller Ausländer und die Auslöschung des Christentums forderte. Über 100 Missionare der CIM wurden dabei brutal ermordet, was für Taylor kaum zu verkraften war. 1905 starb er in China. Dennoch wuchs die CIM zur weltweit größten Missionsgesellschaft heran. Im Jahr 1934 erreichte sie mit 1368 Missionaren den Höhepunkt. 1950 wurden durch die kommunistische Revolution Maos schließlich alle Ausländer aus China ausgewiesen, d.h. die Missionare mussten ausweichen und verteilten sich über ganz Ostasien. 1964 gab man sich den neuen Namen Überseeische Missionsgemeinschaft (ÜMG / OMF).

Viele deutschsprachige Glaubensmissionen entstanden nach dem Vorbild der CIM, wie z.B. die Liebenzeller und auch die Marburger Mission, die zunächst unter der Koordination der CIM eigenständig Provinzen in China als Arbeitsgebiete zugewiesen bekommen hatten.


4. Die Grundsätze der China Inland Mission

  • Die Mission ist interdenominationell. Missionare aus allen evangelischen Kirchen können in ihr mitarbeiten, wenn sie der Glaubensgrundlage zustimmen.

  • Fragen der Kirchenordnung sind sekundär und auf dem Missionsfeld pragmatisch zu lösen.

  • Missionare sind nicht Angestellte, sondern Mitglieder der Mission.

  • Missionare bekommen kein Gehalt, sondern erwarten im Glauben, dass Gott sie mit allem Nötigen versorgt („Glaubensprinzip”).

  • Missionare mit unterschiedlicher Vorbildung sind gleichermaßen willkommen.

  • Ordinierte und nicht ordinierte Missionare sind in jeder Hinsicht gleichgestellt.

  • Ehefrauen gelten als Missionare und haben dieselben Möglichkeiten wie Männer.

  • Ledige Frauen haben dieselben Möglichkeiten der Missionsarbeit wie Männer und können auch im selbständigen evangelistischen Pionierdienst arbeiten.

  • Die Missionare identifizieren sich soweit wie eben möglich in ihren Lebensgewohnheiten mit der Kultur des Gastlandes. So tragen sie z. B. chinesische Kleidung.

  • Missionare müssen bereit sein zu Verzicht, Leiden und Opfer.

  • Verkündigung hat Vorrang vor institutioneller Arbeit.

  • Erste Priorität der evangelistischen Arbeit ist es, allen die Chance zu geben, das Evangelium wenigstens einmal zu hören. Deswegen steht die evangelistische Reisepredigt im Zentrum.

  • Die Bekehrten sind in Gemeinden zu sammeln und zur Ausweitung des Dienstes einzusetzen.

  • Die Mission ist international.

  • Die Leitung der Mission ist zentralistisch und liegt auf dem Missionsfeld. Die Heimatzentralen der Mission sind nur für die Vertretung der Belange der Mission im jeweiligen Land zuständig.


5. Ein Vergleich der Missionsprinzipien

  • Die Missionare der klassischen deutschen Missionsgesellschaften erhielten ein regelmäßiges festes Gehalt, die Missionare der China-Inland-Mission hatten kein garantiertes Einkommen.

  • Die klassischen Missionsgesellschaften haben bei Bedarf auch Schulden gemacht, die China-Inland-Mission hat aus Prinzip keine Schulden gemacht. 

  • Bei der China-Inland-Mission musste jeder Missionar von einer persönlichen Berufung Gottes wissen, bei den klassischen Missionen galt die Ordination durch die Heimatkirche oder Missionsgesellschaft als göttliche Berufung.

  • Die meisten Missionsgesellschaften um 1860 hatten eine konfessionell-homogene Mitarbeiterschaft, bei der China-Inland-Mission arbeiteten Missionare aus allen Bekenntnissen.

  • Die klassischen Missionsgesellschaften hatten eine national-homogene Mitarbeiterschaft, bei der China-Inland-Mission arbeiteten Missionare aus verschiedenen Nationen zusammen.

  • Die klassischen Missionsgesellschaften sandten hauptsächlich gebildete Fachkräfte, die China-Inland-Mission rekrutierte auch viele Mitarbeiter aus unteren Bildungsschichten.

  • Bei den klassischen Missionsgesellschaften galten die Ehefrauen als Unterstützung der Männer. Der Einsatz lediger Frauen wurde ganz abgelehnt. Die China-Inland-Mission betrachtete die Ehefrauen als selbständige Missionarinnen und beschäftigte auch ledige Frauen in der Pioniermission.

  • Die Leitung der klassischen Missionen bestand in einem Heimatkomitee, welches die Missionare anstellte. Die China-Inland-Mission wurde auf dem Missionsfeld vom Missionarsteam selbst geleitet.

  • Die Missionare der China-Inland-Mission passten sich der Kultur des Missionslandes weitgehend an, dies war vorher in der protestantischen Mission nicht üblich.

  • Die klassischen Missionsgesellschaften nahmen bei Bedarf auch gerne die gewaltsame Unterstützung des Staates in Anspruch. Die China-Inland-Mission lehnte das aus Prinzip ab.

  • Im Blick auf die Missionsmethode konzentrierten sich die klassischen Missionen auf die pädagogische und medizinische Arbeit auf den Missionsstationen, die China-Inland-Mission betrieb dagegen vor allem die evangelistische Reisepredigt.

  • Die Eschatologie der älteren Missionen war eher postmillenialistisch, d.h. man erwartete durch die Missionsarbeit die Christianisierung der Welt, was zu Frieden und Fortschrott führen würde. Hudson Taylor dagegen hatte von der Brüderbewegung um John Nelson Darby eine prämillenialistische Eschatologie übernommen, d.h. man erwartete eine dramatische Verschlechterung der Weltverhältnisse, die durch die nahe Wiederkunft Christi zum Ende kommt. Weltmission wurde im Sinne der Erfüllung von Mt 24,14 als Beschleunigung der Wiederkunft Christi verstanden.

  • Hudson Taylors Soteriologie war radikal exklusivistisch, d.h. er war der festen Überzeugung, dass es nur durch die persönliche Bekehrung zu Christus Heil gibt. Jeder Mensch, der nie das Evangelium gehört hat, oder sich nicht für ein Leben im Glauben an Jesus entschieden hat, geht ewig verloren. Diese Theologie gab den frühen Glaubensmissionen eine starke Leidenschaft und Dynamik.

Neu war, dass die Glaubensmissionen nach dem Vorbild der CIM ihre vordringliche Aufgabe darin sahen, das Evangelium zu bisher unerreichten Völkern zu tragen.


6. Die Wirkungsgeschichte der Glaubensmissionen

Im deutschsprachigen Raum führte das Vorbild der China-Inland-Mission im Laufe der Zeit zu einer Vielzahl von ähnlich geprägten Missionsgründungen.

  • 1882: Neukirchener Mission

  • 1889: Deutsche Allianz-Mission (FeG)

  • 1890: Die Mission der deutschen Baptisten

  • 1895: Der Chinazweig der Pilgermission St.Chrischona

  • 1899: Die Liebenzeller Mission

  • 1900: Die Sudan-Pioniermission

… und viele andere.

Heute sind die meisten Glaubensmissionen Deutschlands in der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM) zusammen gefasst. Dazu gehören knapp 90 Werke, die im Bereich der Landeskirchen, Freikirchen und Gemeinschaften arbeiten, und die insgesamt weltweit 2900 Missionare betreut. Ausbildungszentrum ist die Akademie für Weltmission in Korntal.

Diesen Missionsgesellschaften ist bis heute gemeinsam:

  • Die Missionsmethode: Der Vorrang des evangelistischen Dienstes vor sozialer Arbeit (ohne diese aber zu vernachlässigen)

  • Das Missionsmotiv: Die Überzeugung, dass Menschen nur durch eine persönliche Bekehrung das ewige Heil bekommen.

  • Das Finanzierungsprinzip: Man lebt nicht von festen staatlichen oder kirchlichen Zuwendungen, sondern allein von Spenden der Missionsfreunde.