Forschungsstelle Neupietismus

Grundinformationen zum Neupietismus

Die Erweckungsbewegung

Vorläufer der Erweckungsbewegung


1. Die Zeitsituation

Gegen 1730 verliert der Pietismus langsam seine gesellschaftlich prägende Vorrangstellung. Die Aufklärung setzt sich immer mehr durch und bestimmt das allgemeine Bewusstsein. Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts gehen die Besucherzahlen der pietistischen Gemeinschaften immer mehr zurück. Seit 1770 bestimmen Vernunft und Philosophie deutlich stärker die öffentliche Meinung als die frommen Kreise. Diese gibt es zwar immer noch, aber sie ziehen sich als die „Stillen im Lande“ (Ps 35,20) zurück. Ab 1780 beginnen die erwecklichen Kreise sich langsam wieder stärker in Organisationen oder um einzelne prägende Persönlichkeiten zu formieren. Durch diese Vorläufer entsteht eine Saat, die dann um 1830 die deutsche Erweckungsbewegung auslöst. Gefördert wird dies durch die sich langsam ausbreitende Romantik, die mit ihrem Sinn für das Irrationale auch das Ansehen der Frommen wieder begünstigte.


2. Die Herrnhuter Diaspora-Arbeit

Die Herrnhuter widerstehen den Einflüssen von Rationalismus und Aufklärung und führen auch nach Zinzendorfs Tod im Jahr 1760 ihre Missionsarbeit fort. Auch in Deutschland werden überall Kreise gesammelt, denen durch ermutigende Missionsberichte der Horizont geweitet wird. Reiseprediger besuchen in der Herrnhuter Diaspora-Arbeit auch in entlegenen Gegenden Deutschlands einzelne verstreute Gläubige und kleine Gruppen.


3. Die Deutsche Christentumsgesellschaft

Der Augsburger Pfarrer Johann August Urlsperger (1728-1806) muss 1776 aus gesundheitlichen Gründen sein Pfarramt aufgeben. Ihm ist es aber ein großes Anliegen, etwas gegen den glaubenszerstörenden Geist der Aufklärung zu unternehmen. Dazu möchte er am liebsten eine Art Apologetischer Zentrale gründen. Schließlich findet er in Basel einige Verbündete, mit denen er 1780 die Deutsche Christentumsgesellschaft gründet. Zunächst kümmert man sich darum, preisgünstige pietistische Literatur zu verbreiten und Kontakte zu den verstreuten Stillen im Lande aufzubauen, später traten dann Mission und Diakonie in den Vordergrund. Besonders durch Karl Friedrich Adolf Steinkopf, der von 1795 – 1801 als Sekretär der Christentumsgesellschaft wirkte, entstanden intensive Beziehungen auch zur englischen Erweckungsbewegung.


4. Christian Friedrich Spittler (1782-1867)

Spittler stammt aus Württemberg und entscheidet sich, nicht wie sein Vater Pfarrer zu werden. Nach einer kurzen Tätigkeit als Stadtschreiber wird er 1801 Steinkopfs Nachfolger als Sekretär der Deutschen Christentumsgesellschaft. Mit tiefem Glauben und großem Organisationstalent gründete er eine Vielzahl von bedeutenden Werken der Inneren und Äußern Mission. Am bedeutendsten wurde die 1833 gegründete Pilger-Missions-Gesellschaft, mit der zunächst fromme Handwerksgesellen als wandernde Missionare durch Europa geschickt wurde. Man merkte bald, dass die jungen Männer vor ihrer Aussendung eine theologische Grundausbildung benötigten, so dass Spittler in der St. Chrischona-Kirche in Basel ein Missionsausbildungszentrum aufbaute, das bis heute besteht.


5. Heinrich Jung-Stilling (1740-1817)

Heinrich Jung nannte sich später Stilling, weil er sich zu den Stillen im Lande zählte. Er wuchs in einem vom Pietismus beeinflussten Elternhaus im Siegerland auf und studierte dann Medizin in Straßburg, wo er mit Goethe und Herder Freundschaft schloss. Neben seiner Tätigkeit als Augenarzt wird er zum meistgelesenen Erbauungsschriftsteller seiner Zeit. Das Leben ist für ihn eine Wanderung durch viele Anfechtungen bis zur himmlischen Herrlichkeit: „Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen!“


6. Johann Kaspar Lavater (1741 – 1801)

Lavater war reformierter Pfarrer in Zürich. Er war ein weltoffener, hochgebildeter Theologe, Pädagoge und Politiker. Er hatte Kontakte zu Goethe und Herder, schrieb Kirchenlieder, malte über 22.000 Porträts zu wissenschaftlichen Studien und versuchte zwischen Pietismus und Aufklärung zu vermitteln.


7. Johann Friedrich Oberlin (1740 – 1826)

Der gebürtige Straßburger übernahm 1767 das lutherische Pfarramt in dem entlegenen und heruntergekommenen Steintal in den Vogesen. Ihm gelang es, dort bis zu seinem Tod eine blühende Infrastruktur aufzubauen (Straßen, Brücken, Schulen, Sparkasse, Textilindustrie). Er hatte den Grundsatz: „Nichts ohne Gott, alles für den Heiland!“ Er war ein tiefer Seelsorger und Missionsförderer und diente auch den Katholiken und Reformierten in seiner Gegend in gleicher Weise. Wie viele seiner frommen Zeitgenossen spekulierte auch er gerne über Jenseitsfragen. Seine früh verstorbene Frau erschien ihm angeblich neun Jahre lang danach immer wieder um ihm Trost und Rat zu erteilen.

Die deutsche Erweckungsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Nachdem der Barockpietismus um Spener, Francke und Zinzendorf gegen 1730 seinen Höhepunkt überschritten hatte, nahm die geistliche Bewegung in Deutschland immer mehr ab. An vielen Orten zogen sich die Pietisten als die „Stillen im Lande“ zurück, auch wenn vereinzelt prägende Persönlichkeiten das geistliche Feuer wach hielten.

Die französische Revolution 1789 und die Auflösung des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ 1806 durch Napoleon erschüttern viele Menschen in Deutschland. Unterstützt durch eine allgemein stärker werdende romantische Offenheit für das Übersinnliche entstehen nach der politischen Neuordnung Europas im Wiener Kongress 1815 in vielen deutschen Gegenden Erweckungsherde. Es kommt zu einem allgemeinen geistlichen Aufbruch, der um 1830 seinen Höhepunkt erreicht und dann wieder etwas abflaut. Die Ausläufer führen aber zu einer langfristigen Neubelebung vieler Landeskirchen und bilden die Grundlage für die dann um 1890 entstehende Gemeinschaftsbewegung, die als nächster erwecklicher Aufbruch in Deutschland gilt.

Da Deutschland um 1815 noch kein Nationalstaat war, sondern aus einer Vielzahl von Territorien bestand, entwickelte sich auch die Erweckung nicht als gesamtdeutsche Bewegung, sondern in sehr unterschiedlichen regionalen Formen.

  1. Allgäu - Eine der ersten Erweckungen in Deutschland finden wir im Allgäu. Im Gegensatz zu allen anderen Erweckungsgebieten spielte sie sich innerhalb der katholischen Kirche ab. Beeinflusst von dem katholischen Bischof Johann Michael Sailer (1751-1832) versammelten sich seit 1794 Priester im Seeger Kreis und entwickelten einen evangelischen Rechtfertigungsglauben. Zu diesem Kreis gehörte Martin Boos (1762-1825) und Johann Baptista Gossner (1773-1858). Die Erweckung griff bis nach München über und wurde durch Kontakte zu anderen Erweckungsgebieten vertieft.

  2. Württemberg - Württemberg war seit Bengel und Oetinger schon vielfältig erwecklich geprägt. Um 1826 kam es dann zu einem neuen Aufbruch durch den jungen Pfarrer Ludwig Hofacker (1798-1828), der in nur zwei von Krankheiten gezeichneten Jahren bis zu seinem frühen Tod eine starke Bewegung auslöste. Eine große Bußbewegung entstand auch durch die Verkündigung von Johann Christoph Blumhardt (1805-80) der als Pfarrer von Möttlingen einen jahrelangen Kampf um das Heil und die Heilung der Frau Gottliebin Dittus führte und dann ab 1852 in Bad Boll ein geistliches Sanatorium führte. Er dichtete das Lied: „Das Jesus siegt bleibt ewig ausgemacht!“

  3. Baden - In der katholischen Dorfgemeinde im Wurmtal südlich von Pforzheim wirkte der Priester Aloyis Henhöfer (1789-1862). Unter dem Einfluss der Allgäuer Erweckung bekehrte er sich in jungen Jahren zum Evangelium und verließ mit seiner gesamten Gemeinde die katholische Kirche. Auch Henhöfer wandte sich immer wieder gegen den toten Rationalismus seiner Tage und predigte die Gnade Gottes. Der Fabrikant Carl Mez aus Freiburg hat ebenfalls die Erweckung in Baden unterstützt und später auf Elias Schrenk gewirkt, den er in seiner Firma anstellte.

  4. Franken - In Nordbayern konnte sich die Erweckungsbewegung zuallerst festsetzen. Von Nürnberg und Erlangen aus wirkten viele Pfarrer und Prediger im erwecklichen Sinne. Der reformierte Theologieprofessor Christian Krafft (1784-1845) sammelte die Erlanger Kreise um sich. Zunächst arbeiteten in diesen Kreisen Lutheraner, Reformierte, Herrnhuter und Katholiken zusammen, später wurde die Erweckung jedoch unter Wilhelm Löhe (1808-72) und seinem Zentrum in Neuendettelsau streng lutherisch. Die gesamte Landeskirche in Bayern stellte sich geschlossen zu Luther und seiner Theologie, besonders unter dem Oberkonsistorialpräsident Adolf Harleß (1806-79). Neben der starken missionarischen und diakonischen Ausprägung der Kirche entwickelte sich an der Universität Erlangen eine beispiellose Schule erwecklicher Theologie, die so genannte Erlanger Theologie (Hofmann, Frank, Delitzsch, Zahn, Ihmels, Elert, Althaus, usw.).

  5. Hessen - In Hessen kam es zu keiner wirklichen Erweckungsbewegung. In Marburg wirkte der Theologe August Vilmar (1800-68), der sich vehement gegen den Rationalismus und seine Bibelkritik wandte. Aber auch seine Theologie blieb im lutherischen Konfessionalismus stecken und brachte keine wirkliche geistliche Erneuerung.

  6. Siegerland - In Verbindung mit der Erweckung im Wuppertal stand auch die siegerländische Erweckung, angestoßen durch den Tersteegianer Heinrich Weisgerber und dem Gerbermeister Tillmann Siebel (1804-75). Auch Weisgerber und Siebel waren echte Originale in ihrer Verkündigung. Die bekehrten Kreise schlossen sich in Gemeinschaften zusammen, welche durch Reiseprediger versorgt wurden. Der Siegerländer Gemeinschaftsverband einte so die zerstreut lebenden Neubekehrten. Er ging später in die Gemeinschaftsbewegung ein.

  7. Niederrhein und Wuppertal - Der Niederrhein war schon seit Tersteegens Zeiten stark pietistisch beeinflusst. In Kaiserswerth bei Düsseldorf gründete Theodor Fliedner mit seiner Frau 1836 das erste deutsche Diakonissenhaus! Der Schwerpunkt der Erweckung verlagerte sich aber nach dem Wuppertal, einem Ort von verschiedenen religiösen Gegensätzen. Besonders die dortige reformierte Gemeinde unter der Verkündigung von Gottfried Daniel Krummacher (1774-1837) und Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803-75) wuchs rasch durch die Verkündigung der freien Gnade im reformierten Sinne. Aber auch manche Freikirchen nahmen im Wuppertal ihren Anfang. Carl Brockhaus (1822- 99) gründete gegen 1850 die deutschen Brüderversammlungen, Hermann Heinrich Grafe 1854 die Freien evangelischen Gemeinden.

  8. Minden-Ravensberg - Die Erweckungsbewegung beeinflusste auch ärmere Bevölkerungsschichten. Hierfür steht die Erweckung von Minden-Ravensberg, die durch den Pastor Johann Heinrich Volkening (1796-1877) angestoßen wurde. Auch Volkening versuchte, als einflussreicher Kirchenmann die Kanzeln seines Bezirkes mit gläubigen Pfarrern zu besetzen, was ihm auch bald gelang. Er legte Wert auf die Ausbildung von Posaunenchören. Seit Leitvers lautete: „Gerettetsein gibt Rettersinn.â€?

  9. Bremen - Ein weiteres Zentrum der Erweckung wurde die Stadt Bremen. Hier wirkte der reformierte Pastor Gottfried Menken (1768-1831). Menken wurde durch seine scharfe Kritik an der Aufklärung und der Französischen Revolution bekannt. Er konnte ausrufen: „Alle Revolutionen sind gegen das Reich Gottes.“ In der Aufklärung konnte er nur einen Kult der Menschenvergötterung erkennen. Seine Antwort war ein ausgeprägter Biblizismus mit der Überzeugung von der Irrtumslosigkeit des Gotteswortes.

  10.  Hamburg — Hier kam es nicht zu einer durchgreifenden Erweckungsbewegung, trotzdem wurde die Stadt von kleinen Konventikelkreisen im erwecklichen Sinne geprägt. Matthias Claudius und sein Schwiegersohn Friedrich Christoph Perthes konnten ebenso eine kleine Schar um sich sammeln wie Johann Gerhard Oncken, der Vater des deutschen Baptismus. Innerhalb der Landeskirche in Hamburg war auch der Pfarrer Rautenberg durch die Erweckungsbewegung angestoßen worden, eine erste Sonntagschule zu gründen. Auch der Vater der inneren Mission, Johann Heinrich Wichern, kam aus Hamburg. Er sah die Not der Großstädte und plädierte für soziale Hilfen der Kirchen. Die Gründung des „Rauhen Hauses“ bildete den Anfang für viele andere missionarisch-diakonische Bemühungen der Inneren Mission.

  11. Schleswig-Holstein - Auslöser der Erweckung wurde hier der so genannte Emkendorfer Kreis um die Gebrüder Reventlow. Sie wollten der Aufklärung an der Universität in Kiel widerstehen und setzten sich für die Berufung eines bibeltreuen Theologen ein. 1814 wurde dann August Twesten als theologischer Professor nach Kiel berufen und konnte dort die Aufklärung zurückdrängen. Ihm zur Seite stand der Pastor Claus Harms (1778-1855), der 1817 95 Thesen zur Situation der Kirche verfasste, die den Thesen Luthers in nichts nachstanden. Er beklagte darin die zersetzende Tendenz der Aufklärungstheologie und forderte von den Kirchenleitungen einen radikalen Kurswechsel. Als Prediger hatte er wegen seiner volkstümlichen Redeweise eine große Zuhörerschaft.

  12. Berlin - Die Berliner Erweckten waren durch die Herrnhuter Bewegung des Grafen von Zinzendorf beeinflusst. Der Prediger der Böhmischen Bethlehemsgemeinde, Johannes Jänicke, gründete eine Missionsschule und war mit den englischen Evangelikalen eng verbunden. Ein reges Sozialwerk schuf der Baron Ernst von Kottwitz (1757-1843). Ein besonderes Charakteristikum der Berliner Erweckung lag darin, dass sie die hohen Gesellschaftsschichten erreichte. In Berlin ansässige Adelige wie von Bethmann-Hollweg und von Thadden wurden erweckt, ebenso König Friedrich Wilhelm IV. Zur Erweckung hielten sich auch der Alttestamentler Ernst Wilhelm Hengstenberg und der Minister Ludwig von Gerlach, beides überzeugte Lutheraner. Seit 1820 predigten für vier Jahrzehnte größtenteils bekehrte Prediger in Berlins Kirchen und Gemeinden.

  13. Pommern - Aus adeligen Kreisen in Berlin wurde die Erweckung auch nach Pommern getragen. Die Versammlungen der Brüder Below waren so stark besucht, dass die Polizei eingriff und sie kurzerhand verbot. Daraufhin versammelte man sich heimlich in Wäldern und Scheunen. Die Adeligen und Bauern trafen sich auf dem Gut von Adolf von Thadden (1796-1882), dessen Trieglaffer Konferenzen das Zentrum der Erweckungsprediger in Pommern wurde. Auch Bismarckbekehrte sich unter seinem Einfluss. Gustav Knak (1806-1878), seit 1834 Pastor in Wusterwitz, galt als der herausragende Prediger der pommerschen Erweckungsbewegung. Er organisierte besondere Missionsfeste, die das Interesse an der Äußeren Mission festigten und die Erweckung wach hielten.

  14. Hannover/ Lüneburg - Neben dem Liederdichter Philipp Spitta (1801-1859) bestimmte Pastor Ludwig Harms (1808-65) in Hermannsburg die hannoversche Erweckungsbewegung der. Er predigte evangelistisch und betonte die Äußere Mission. Hermannsburg wurde zum geistlichen Zentrum für die Lüneburger Heide und darüber hinaus. 1849 wird das heute noch bestehende Hermannsburger Missionswerk gegründet. Ludwig Harms wollte die Erweckung innerhalb der Kirche halten und betonte sehr stark die lutherischen Bekenntnisse.

Analyse und Bewertung der Erweckungsbewegung


1. Allgemeine Merkmale

  • Der große Gegner der Erweckungsbewegung war die in allen Bereichen zur Herrschaft gekommene Aufklärung mit ihrem Rationalismus und Moralismus.

  • Gegen die natürliche Religion der Aufklärung wurde persönliche Bußeund Umkehr des Einzelnen betont.

  • Das pietistische Erbe wurde aufgenommen in der Betonung der persönlichen Wiedergeburt, Bekehrung und Heiligung.

  • Die Erweckung hat vor allem dort bleibenden Einfluss erlangt, wo prägende geistliche Persönlichkeiten gewirkt haben.

  • Fast alle Bewegungen blieben im Zusammenhang der bestehenden Landeskirche. Vereinzelt kam es sogar zu einer besonderen Betonung reformatorischen Bekenntnisse.

  • Die Innere Mission und Äußere Mission wurden gleichermaßen als Aufgaben der Erweckungsbewegung erkannt.

  • Die Erweckung zu Beginn des 19.Jahrhunderts war aus evangelischer Sicht eine weltweite Erscheinung.

  • Konfessionsgrenzen traten in der Erweckungsbewegung zunächst in den Hintergrund. Im späteren Verlauf besann man sich aber gerade auf die Schätze der jeweils eigenen Konfession (Konfessionalismus) und grenzte sich stärker ab.

  • Viele Erweckungsprediger waren vom nahen Weltende überzeugt. Dies gab der Bewegung Leidenschaft aber es führte auch zu Sektenbildungen


2. Leistungen

  • Viele soziale Einrichtungen, die es bis heute gibt, wurzeln in der Erweckungsbewegung.

  • Bis heute ist das kirchliche Leben in Deutschland in vielen Punkten durch die Erweckungsbewegung bleibend positiv geprägt worden.

  • Die kirchliche Diakonie hat ihre Wurzeln in der Inneren Mission der Erweckungsbewegung.

  • Die großen Aufbrüche der evangelischen Weltmissionsarbeit waren Resultate der Erweckungsfrömmigkeit.

  • Die evangelischen Freikirchen entstanden im Umfeld der Erweckungsbewegung.

  • Gegen die rationalistische Zerstörung des Vertrauens in die Heilige Schrift wurde die besondere Offenbarung Gottes in der Bibel wieder betont.


3. Defizite

  • Der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts war eine Reformbewegung die Neuerungen gegen die herrschende Orthodoxie durchsetzte. Die Erweckungsbewegung des 19.Jahrhunderts wirkte dagegen eher reaktionär-konservativ und versuchte die als negativ empfundenen gesellschaftlichen und theologischen Neuerungen wieder rückgängig zu machen.

  • Politisch stehen die Erweckten meist aus Prinzip sehr nah bei der monarchischen Regierung, demokratische Entwicklungen werden sehr skeptisch beobachtet. Damit entfernt man sich von den aufstrebenden Bevölkerungsschichten, die anders denken.

  • Kulturell stellt sich die Erweckungsbewegung selbst ins Abseits, indem man sich z.B. von Theater und allgemeiner Geselligkeit fernhält. Intellektuelle und Arbeiter werden in ihrer Mehrheit nicht mehr erreicht.

  • Theologisch gab es nur wenige Köpfe, die fruchtbar gewirkt haben. Zum großen Teil überließ man der liberalen Theologie das Feld.

  • Gesellschaftlich wurde nur vereinzelt und lokal wirkliche Veränderung erreicht. Vor allem in den Großstädten kam es zu keinem prägenden Einfluss.

  • In Deutschland ist die Erweckungsbewegung aufgrund der politischen Gebietsvielfalt stark zersplittert und lokal begrenzt geblieben. Einen Gesamtführer der deutschen Erweckungsbewegung hat es nicht gegeben, man hat sich dadurch kaum als Gesamtbewegung verstanden und formiert. Dadurch hatte man nicht den nötigen Einfluss, um die Gesellschaft zu durchdringen.

Internationale erweckliche Aufbrüche im 19. Jahrhundert

1. USA

In Nordamerika kam es von 1797-1805 zu einer zweiten großen Erweckungswelle (Second Great Awakening), die im Laufe des 19.Jhs. immer neue geistliche Aufbrüche hervorbrachte. Populär waren dabei so genannten camp-meetings, d.h. Zeltlager um mehrtägige (oder -wöchige) Evangelisationsveranstaltungen. Prägende Persönlichkeiten wurden Charles Grandison Finney (1792-1875) und Dwight L.Moody (1837-1899).


2. Großbritannien

In England ist gegen Ende des 18.Jahrhunderts ein großer Teil der anglikanischen Staatskirche durch den Methodismus geprägt. Daraus entsteht die Evangelical Party, die auch Low Church genannt wird. Diese englischen Evangelikalen machen heute ca. 50% der anglikanischen Kirche aus. Daneben verstärkt sich aber auch ein konservativ-liturgischer Flügel, die High Church und ein kleiner liberalen sozialaktivistischen Flügel, die Broad Church.

In Schottland prangerten ab 1797 die Brüder James (1768-1851) und Robert Haldane (1764-1842) die Missstände der schottischen Staatskirche an. Sie gründeten viele unabhängige Gemeinden, die sich kongregationalistisch nannten, d.h. die Einzelgemeinde war unabhängig von Staat und Kirche. Daran knüpfte kurze Zeit später Thomas Chalmers (1780-1847) an, ein genialer Theologieprofessor und Pfarrer, der gegen den Deismus vorging und auch auf sozialem Gebiet Entscheidendes erreichte. Damit widerlegte er den Vorwurf, als würden sich Evangelium und soziales Handeln widersprechen. Der schottische Erweckungsprediger wurde auch der Vater der Evangelischen Allianz, deren Vertreter er 1846 zur Gründungsversammlung nach London eingeladen hatte.


3. Der Réveil in der Schweiz

Réveil (sprich: Reewäi) ist das französische Wort für Erweckung und Fachbegriff für diese Bewegungen in der französischsprachigen Schweiz, in Frankreich und in Holland.
Die Erweckung in der Schweiz fand ihren Ausgangspunkt in Genf. Dort bildete sich Anfang des 19. Jahrhunderts ein kleiner Theologiestudentenkreis um Ami Bost (1790-1874), der sich zum Herrnhutertum bekannte. Unter der Verkündigung der exzentrischen Baronin von Krüdener wuchs diese Gruppe bis 1815 und wandte sich gegen den Rationalismus an der Genfer Fakultät. Zwischenzeitlich war auch der schottische Erweckungsprediger Robert Haldane nach Genf gekommen und legte dem Theologenkreis den Römerbrief aus. Die Erweckten waren gezwungen, eigene Kirchen in der Gegend von Genf aufzumachen, weil ihnen die Kanzeln verboten wurden. 1823 kam es zur Gründung einer eigenen theologischen Fakultät in Genf. Bald war die Trennung von der Kirche besiegelt und neue Freikirchen entstanden, besonders im Waadtland, wo der Prediger Alexandre Vinet (1797-1847) wegweisend wurde. Vinet betonte die Freiwilligkeitskirche gegenüber der Staatskirche und wurde damit zu einem Vorkämpfer der klassischen Freikirchen. Neben Genf kam es auch in Bern und Zürich zu erwecklichen Aufbrüchen, deren Anhänger aber innerhalb der reformierten Kirche blieben.


4. Der Réveil in Frankreich

Die Erweckung in Frankreich war durch Auswirkung der Genfer Ereignisse bewirkt worden. Henry Pyt und Ami Bost predigten in Südfrankreich und führten viele Menschen zum Glauben. Aber erst durch Adolphe Monod (1802-56) kam es in den 1830er Jahren zu einer echten Erweckungsbewegung in Frankreich. Monod hatte sich 1827 in Neapel bekehrt und wurde Prediger der reformierten Gemeinden in Lyon. In einem Streit um den rechten Abendmahlsgenuss kam es zur Trennung von der reformierten Gemeinde und zur Gründung der ersten freien Gemeinde in Lyon unter Monod. Später wirkte er als Pastor in Paris, vernachlässigte aber niemals die erweckliche Evangelisationspredigt. Auch er konnte Tausende zum Glauben


5. Die Niederlande

Unter reformiertem Einfluss stand auch die Erweckung in den Niederlanden, die durch den Universalgelehrten Willem Bilderdijk (1759-1831) angestoßen wurde. Bilderdijk war Jurist, Philosoph, Historiker, Dichter und Schriftsteller in einem. Er wandte sich gegen den zunehmenden Liberalismus an den Universitäten und in der Politik, ohne die höheren Stände erreichen zu können. Sein Schüler wurde Groen van Prinsterer (1801-76), der zusammen mit Isaac da Costa die Erweckung in Holland durchsetzte. Charakteristisch wurde hier die starke Betonung des Calvinismus, der mit der Erweckung zu einer neuen Blüte kam. Dabei waren die Einflüsse der Genfer Erweckungstheologen entscheidend. Unter Abraham Kuyper drang dieser Neocalvinismus später auch in die Politik ein. Er führte zu verschiedenen Spaltungen innerhalb der reformierten Staatskirche in Holland, aber auch zur Gründung von protestantischen Parteien und einer eigenen, bibeltreuen Hochschule in Amsterdam.


6. Skandinavien

In Schweden blieb die durch die Herrnhuter vorbereitete Erweckungsbewegung in lutherischen Bahnen. Karl Olof Rosenius (1816-68) wirkte dort als Missionsprediger, der die kirchenkritischen Kreise sammeln und einigen konnte.
In Norwegenbegann die Erweckung mit dem Evangelisten Nils Hauge (1771-1824), der als Laienprediger von Stadt zu Stadt zog. Auch er warnte vor einer Trennung von der Landeskirche, drängte den Rationalismus zurück und hatte Einfluss auf Politik und Wirtschaft. So verblieben auch die norwegischen Erweckten innerhalb der lutherischen Kirche, bildeten aber missionarische Vereine auf Ortsebene.
Auch Dänemark kannte eine Erweckungsbewegung. Zu nennen ist hier Pastor Severin Grundtvig (1783-1872), der eine große Bewegung hinter sich bringen konnte. Auch hier stand der Einfluss auf die Gesellschaft sowie Bekehrung und Wiedergeburt im Mittelpunkt der Verkündigung.
In Finnland wird der Bauer Paavo Ruotsalainen (1777-1852) zum Führer einer volkstümlichen Erweckungsbewegung, die breite Volksschichten erreicht.

Die Entstehung der Inneren Mission


Die soziale Lage in Deutschland um 1815

Schon seit den Anfängen des Christentums kümmerten sich die christlichen Gemeinden um Arme, Kranke, Witwen und Waisen (vgl. Apg. 6). Im Mittelalter entwickelte sich in den meisten Städten Deutschlands ein einigermaßen wirksames System kommunaler Armenfürsorge, so dass es zu keinem großflächigen Elend kam. Ab 1750 änderte sich die Situation in Deutschland durch verschiedene Faktoren:

  • Verbesserte Nahrungsversorgung: Durch Ausbau der Anbauflächen, verbesserte Bewirtschaftungsmethoden und durch die Einführung des Kartoffelanbaus in Preußen seit 1738 konnten viel mehr Menschen ernährt werden.

  • Vielfältigere Existenzmöglichkeiten: Es kam zum Wegfall von Heiratsbeschränkungen und grundherrschaftlichen Bindungen. Viele abhängigen Bauern wurden frei, Zunftordnungen wurden aufgelöst, wirtschaftlich entstand langsam Gewerbefreiheit.

  • Bevölkerungsexplosion: Diese Veränderungen führten dazu, dass die Bevölkerung Deutschlands von 17 Millionen um 1750 auf 23 Millionen um 1800 anwuchs (35 %!). Bis 1850 stieg sie um weitere 60% auf 37 Millionen.

  • Produktivitäts-Stagnation: Da die Industrialisierung in Deutschland erst gegen 1850 einsetzt, kann die Wirtschaftsproduktion die vergrößerte Bevölkerung nicht ausreichend versorgen. Es kommt zu Massenarbeitslosigkeit. Dadurch entsteht eine neue Unterschicht, die am Rande des Existenzminimums lebt. Das Problem war also vor 1850 noch nicht die Industrialisierung, sondern fehlende Industrie!

Das System der christlich-bürgerlichen Armenfürsorge (wie noch bei Spener!) brach aufgrund dieser neuen Massenarmut ab 1815 immer mehr zusammen. Man spricht nun von Pauperismus (pauper = lat. arm). Erst in den 1850er Jahren greift in Deutschland die Industrialisierung, welche die armen Bevölkerungsschichten in Massen in die Fabriken zieht und das „Proletariat“ entstehen lässt.


Warum entstanden nach 1815 freie diakonische Vereine?

  • Deutschland wurde durch die napoleonischen Kriege 1806-1815 territorial und religiös so durcheinander geworfen, dass in den meisten Staaten mehrere Konfessionen nebeneinander bestanden. Religion wurde damit immer mehr zu einer Sache der persönlichen Überzeugung.

  • Außerdem eröffneten Veränderungen des Vereinsrechts seit 1815 Menschen mit ähnlichen religiösen Ansichten die Möglichkeit freie Vereine zu bilden. Das Individuum sollte das öffentliche Leben nun stärker mitgestalten. Einige der „Erweckten“ sahen das als Chance und wurden selbständig aktiv ohne auf die Kirchenleitungen und Pfarrer zu warten. Vorbild für die Vereinsgründungen waren die schon vielerorts geduldeten pietistischen Konventikel. Von daher schwang in den Vereinen von Beginn ein kirchenkritisches Element mit.

  • Natürlich hatten sich Christen schon immer um Arme gekümmert, die Diakonie nach 1815 aber unterschied sich davon in drei grundsätzlichen Punkten:

  • Nun kam es zum ersten Mal zum Aufbau überregionaler Hilfsorganisationen. Auf der Welle eines seit den napoleonischen Kriegen immer stärker werdenden gesamtdeutschen Bewusstseins (Hoffmann von Fallersleben dichtet 1841 „Deutschland, Deutschland über alles …“) versucht man gegen das Massenelend nun auch großflächig anzugehen.

  • Die freie Vereins-Diakonie wurde in von der Erweckungsbewegung getragen. Ihr ging es nicht nur um soziale Zuwendung, sondern vor allem um eine Neuverkündigung der christlichen Botschaft an die entchristlichte Unterschicht. Diakonie verband sich mit Evangelisation, da die Wurzel des Elends letztlich in der Gottlosigkeit gesehen wurde.

  • Das erweckliche Christentum in Deutschland sah sich in einem großen Streit mit dem aufklärerischen Atheismus. Wenn man schon mit Vernunftargumenten die Überlegenheit des christlichen Glaubens nicht mehr erweisen konnte, dann wollte man es eben durch das soziale Engagement tun. Der große Feind wurde deswegen der Kommunismus, der sich auch um die Armen kümmerte, um sie vom Atheismus zu überzeugen! Es ging also aus der Sicht der Erweckten nicht um „absichtslose Liebe“, sondern um einen Kampf der Weltanschauungen!


Johann Hinrich Wichern (1808-1881) und das Rauhe Haus

1. Wicherns Jugend und Studium

Johann Hinrich Wichern wird am 21.4.1808 als Ältester von 7 Geschwistern geboren (2008 feiern wir also seinen 200.Geburtstag). Sein Vater arbeitet sich aus einfachen Verhältnissen zum Notar hoch und fördert dann auch den sozialen Aufstieg des erstgeborenen Sohnes durch Privatschule, Gymnasium und Klavierunterricht. Wichern wird ein sehr guter Klavierspieler und Sänger (im Rauhen Haus wurde später der Gesang gepflegt). Der Vater stirbt 1823 mit 47, als Wichern 15 ist! Wichern gibt nun Klavierunterricht und Nachhilfe zur Versorgung der Familie. Zwischen dem 16. und 18.Lebensjahr erlebt Wichern seinen geistigen und geistlichen Durchbruch, so dass er seitdem zu den „Erweckten“ in Hamburg gehörte.

Diese Kreise unterstützen ihn dann auch, als er ab 1828 Theologie in Berlin und Göttingen studiert, um später Pastor in Hamburg zu werden. Am 6.4.1832 legt er die theologische Prüfung — ab und war von da an Candidatus (bis 1857), d.h. er stand auf dem aussichtlosen Platz 30 einer langen Warteliste für die wenigen Hamburger Pfarrstellen.


2. Die Idee reift

Wichern übernahm in dieser Situation zunächst eine erste Stelle als Oberlehrer in der Sonntagsschule St. Georg, d.h. er instruierte Ehrenamtliche für die Sonntagsschule. Er hatte schon die Sehnsucht, „Gottes Reich unter den Armen zu bauen“. Sein Denkmuster war: Gottlosigkeit führt zu Sittenverderben und das führt zu Armut. Glaubenserweckung hingegen führt zu Moral und das wiederum führt zu Wohlstand. Wichern trat 1832 auch einem Besuchsverein bei, der die Eltern der Sonntagsschulkinder zu Hause besuchte. Durch diese Arbeit lernte Wichern die Elendsquartiere in Hamburg kennen. Dabei erkannte er das ungeheure Maß der Verwahrlosung und beschloss den Bau eines Rettungshauses in Hamburg. Schnell finden sich ein paar Förderer des Projekts. Am 12.9.1833 erfolgt die öffentliche Information in der Börsenhalle mit einer programmatischen Rede zur Gründung einer „Anstalt zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Darin erzählt Wichern:

„Ich bitte, mir im Geiste in diese Wohnungen zu folgen. In der Tür gerade an wohnt eine Frau, die als Kind mit Mutter und Geschwistern bei Nacht von dem trunkfälligen Vater auf die Straße getrieben zu werden pflegte. Als die Eltern gestorben waren, verehelichte sie sich und wurde Mutter von einem Sohne, der jetzt, etwa 17 Jahre alt, tagaus, tagein Lumpen und Knochen sammelt. Nach dem Tode des ersten Mannes trat die Frau in eine wilde Ehe mit einem andern Manne […]. Der Mann ist gestorben und hat das Weib als Mutter von zwei Kindern zurückgelassen; das eine von diesen ist ein niedlicher Knabe von sechs bis sieben Jahren, der hilflos in diesem Jammer herumschleicht, das andere ein zwölfjähriges Mädchen. Seit vielen Jahren stockblind. Geistige Nahrung irgendwelcher Art ist ihr bis vor kurzem nie geboten. […] Diesem Saale gegenüber wohnt in einer anderen Tür ein wilder Mensch, ein Wall- oder Chauseearbeiter, ein entsetzlicher Trunkenbold; eine Kinderbettstelle, ein wenig zerbrochenes anders Mobiliar und ekelhafter Schmutz füllen diese Behausung. […] Bis zum letzten Frühjahr hatte dieser Mensch einen Neffen bei sich, der seinen Vater und seine Mutter nie gesehen hat; derselbe ist 18 Jahre alt, sammelte bis zum vorigen Winter am Tage Lumpen, aus denen er des Nachts seine Kopfkissen bereitete; Wäsche hatte er im letzten Winter nicht auf seinem Leibe. Seit dem Frühjahr dient er bei einem Hufschmied, ist noch nicht konfirmiert, kann weder lesen noch beten, hat es auch nicht lernen wollen, so fleißig er dazu ist angetrieben worden.[…] Eine Treppe höher in einer Dachwohnung [leben] in wilder Ehe [andere Leute]. Der Mann schneidet Schwefelhölzer, das Weib unterstützt ihn dabei, ein kleiner Knabe muss die Ware verkaufen helfen. […] Er ist minder glücklich als seine in rechtmäßiger Ehe geborenen elf Geschwister, die alle bis auf eine zehnjährige Schwester bereits verstorben sind. Vor einigen Jahren hatten jene Menschen (dürfen wir sie noch Eltern nennen?) den armen Knaben eingesperrt, um ihn erfrieren und verhungern zu lassen. Das Gewinsel des Knaben zog die Nachbarn herbei; so ist er gerettet, hat aber an dem einen Fuß einen Teil der Zehen, und an einer Hand die Hälfte der Finger eingebüßt.“


3. Das Rauhe Haus

Ein geeignetes Gebäude für das neue „Rettungshaus“ wird in Hamburg-Horn bald gefunden, das „Rauhe Haus“ (von „Ruges Haus“ – so hieß wahrscheinlich der Erbauer). Am 31.10.1833 bezieht Wichern (25-jährig!) mit seiner Mutter und Schwester das Haus – acht Tage später folgen die ersten drei Jungen.

Die Anstalt war aufgebaut nach dem Familienprinzip in Hausgruppen zu 10-12 Leuten, da Wichern in der Zerrüttung der Familien den Hauptgrund für die Missstände sah. Auch wenn die Familie dadurch nicht voll ersetzt werden konnte, gab es so doch eine neue Vertrauensgemeinschaft und eine individuelle Prägung der Persönlichkeit. Der zweite Grundzug war das Freiheitsprinzip: Zum einen gab es keine Bindung an den Staat, keine finanziellen Staatszuwendungen um frei zu bleiben: ein Werk der freien christlichen Liebe. Zum Zweiten gab es auch keine Zwangseingewiesenen und keine Mauern:

Folgendes waren die Worte die jedes neue Kind zu Beginn von Wichern gesagt bekam:“Mein Kind, dir ist alles vergeben. Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel, nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht, du magst sie zerreißen, wenn du kannst, diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich, dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und den Menschen!“ (Wichern, Sämtliche Werke, Band 4/ 1, 119)

1834 wurde das zweite Haus eingerichtet, bis 1845 eine christliche Kolonie mit 5 Häusern entstand, in denen die Kinder täglich 2-3 Stunden Unterricht erhielten und 6-9 Stunden praktisch arbeiteten um dabei geistlich und moralisch geprägt zu werden.


4. Die Gründung des Brüderhauses

Schon bald nach der Eröffnung des Rauhen Hauses begann Wichern selbst damit, „entschieden gläubige und bekehrte Handwerksgesellen“ als „Gehilfen“ für seine Arbeit anzustellen, die dann die Leitung der einzelnen Erziehungsgruppen übernehmen sollten. Sie wurden aufgrund der Familiengruppenstruktur „Brüder“ genannt. 1837 wurde Wichern zum ersten Mal gefragt, ob er nicht auch einen Bruder für ein anderes diakonisches Arbeitsfeld abgeben könnte. Bis 1845 wurden dann schon 15 „Sendbrüder“ in vielfältige Aufgaben geschickt. Aus dem Brüderhaus wurde langsam eine Ausbildungsstätte mit deutschlandweiter Perspektive. 1840 spricht Wichern zum ersten Mal davon, dass seine Brüder für die „inländische Mission“ wichtig sind. 1843 nennt er es zum 1.Mal: „das Gehilfeninstitut, als Seminar für innere Mission“. Damit war der Begriff geboren der von nun an als Oberbegriff der verschiedensten diakonischen Arbeitsfelder in Deutschland dienen sollte. 1844 erscheinen zum 1.Mal die „Fliegenden Blätter“, um das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der verstreut arbeitenden Brüder zu stärken.


5. Wicherns Stegreifrede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848

In den 1840er Jahren wird die deutsche Einigung immer mehr zu einem Thema, dass auch vom aufstrebenden Kommunismus durch Feuerbach und Marx aufgegriffen wird. Im März 1848 kommt es zu revolutionären Bestrebungen in Deutschland. In dieser Situation fördert der preußische König Friedrich Wilhelm IV eine Einigung der deutschen Landeskirchen, um eine deutsche Einigung unter bewusst christlichem (und antikommunistischen) Vorzeichen zu unterstützen.

Deswegen beruft man für den September eine gesamtdeutsche Kirchenversammlung mit 500 Teilnehmern nach Wittenberg. Wichern sieht darin eine Chance eine überregional-vernetzte diakonische Arbeit  zu begründen und setzt durch, dass das Thema „Innere Mission“ auf die Tagesordnung kommt.

Er wird um Stellungnahme gebeten und hält in der Wittenberger Schlosskirche seine berühmte und durchschlagende fünfviertelstündige so genannte Stegreifrede.

Die inhaltliche Linie Wicherns besteht darin: Soziale Misstände → Revolution

Daher: Kirchenbund → Innere Mission → Behebung der Misstände → Abwehr der Revolution.

Diese Argumentation hat Erfolg: Die Innere Mission wird umfassend als Anliegen des Kirchenbundes aufgenommen, es wird ein Central-Ausschuss für Innere Mission begründet, für den Wichern dann ein Programm entwirft. Die Gründung des eigentlichen Kirchenbundes scheitert dann zwar, aber gerade deswegen wird der Central-Ausschuss für in der Folgezeit bereitwillig weiter unterstützt. Er bildete damals die einzige gesamtdeutsch operierende christliche Organisation. Damit rückte die Diakonie erstmals deutschlandweit ins christliche Blickfeld und schuf die Grundlagen für das bis heute bestehende duale System sozialer Sicherung.


6. Wicherns Denkschrift 1849

Anfang 1849 erscheint Wicherns DENKSCHRIFT zum Verständnis von Innerer Mission.

Wichern lehnt sich dabei an die Konzeption des „christlichen Staates“ von Friedrich Julius Stahl (1802-1861) an. Wichern will danach nicht einfach nur Not lindern, er will Reich Gottes bauen, und das versteht er umfassend national und volkskirchlich (nicht als pietistisches Herausretten von Einzelnen!). Es geht ihm um eine christliche Kultur in Staat, Familie, Kunst und Wissenschaft

Innere Mission versteht er also als Ausbreitung des Reiches Gottes im Sinne einer von Gott geprägten Gesellschaft. Das Ziel ist für ihn ein christliches Volk!

Seine Analyse: Das Massenelend Deutschlands resultiert aus seiner Gottlosigkeit (Sünde)!

Seine Strategie: Soziale Hilfe soll die Ohren für das Evangelium öffnen. Dies wird dafür sorgen, dass Menschen zum Glauben kommen und damit auch ihr äußeres Elend überwinden.

Das heißt also: Sozialarbeit ist nie Selbstzweck sondern nur Sprungbrett der Evangelisation, denn nur eine Wiederchristianisierung der Gesellschaft behebt die Nöte wirklich! Wichern will eine umfassende soziale Erneuerung, nicht nur karitative Zufälligkeit! Darin ist er sich mit dem Kommunismus einig.

Wichern war total religiös motiviert. Er wollte keine „absichtslose Liebe“, sondern die Instrumentalisierung der sozialen Arbeit zur Rechristianisierung Deutschlands. Das Ziel war ein Volk von lebendigen Christen, das nach den Ordnungen des Reiches Gottes lebt. Deswegen waren auch die Pietisten keine große Hilfe, denn ihre Konventikel interessierten sich kaum für das Ganze der Gesellschaft.


7. Wichern und der Kommunismus

Der Kommunismus vermittelte seine Inhalte auch durch die Form sozialer Hilfe und hatte damit Erfolg.

Gleichzeitig verlor die christliche Verkündigung ihre Kommunizierbarkeit. Also musste Wichern das Christentum nicht nur individuell, sondern auch als sozial überlegen erweisen. Wichern hat gesehen, dass der Atheismus denkmöglich geworden ist, daher muss er auf dem Gebiet der Problemlösungskompetenz geschlagen werden: Wicherns These lautete: Keiner kann besser die soziale Frage lösen als das Christentum! Deswegen mussten Liebe und Glaube unbedingt eine Einheit bilden.

Es ging auf keinen Fall einfach nur um soziale Hilfe egal aus welcher Motivation. Die Motivation war geradezu das Entscheidende! Deswegen war der Kommunismus kein ergänzender Freund, sondern der Todfeind, denn seine sozialen Hilfsprogramme führten die Menschen gerade nicht zum Evangelium, und damit auch nicht zur wirklich rettenden Kultur!


8. Wichern im preußischen Staatsdienst und Lebensende

Seit 1844 hatte Wichern Kontakte zum preußischen König Friedrich-Wilhelm IV. Der König wollte eine Gefängnisreform: Ablösung der Kollektivhaft durch Einzelhaft. Positive Wärter sollten die Gefangenen prägen. Dafür aber brauchte man geeignetes Personal. Dafür sollte Wichern sorgen.

1856 nahmen 38 Wichern-Brüder ihren Dienst auf

1857 wurde Wichern vortragender Rat (für Gefängnisangelegenheiten) im Innenministerium

Nachdem 1858 Friedrich-Wilhelm IV seine Herrschaft abgab wurde der Vertrag mit der Brüderanstalt zur Ausbildung von Gefängniswärtern 1862 nicht erneuert. Damit scheiterten Wicherns Pläne.

Ebenso scheiterte 1856 auf der Monbijou-Konferenz sein Versuch den „Diakon“ als gleichberechtigtes kirchliches Amt neben dem „Pfarrer“ anerkennen zu lassen (dies geschah erst 1996!).

1874 erkrankte Wichern schwer. Er starb am 7.4.1881.


9. Die Vereinsstruktur der Inneren Mission

Als Organisationsform setzt sich in der Inneren Mission der freie Verein durch. Das zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgekommene Vereinsrecht bietet dem organisatorisch hochbegabten Wichern eine ideale Basis. Die Innere Mission sollte frei sein von kirchlicher Bindung (wie das Rauhe Haus vom Staat) Vereine waren für ihn eine Erscheinungsform des Allgemeinen Priestertums, deswegen hielt er die Innere Mission für kirchlich, auch wenn sie völlig unabhängig von den Kirchenstrukturen agierte. Ein kirchlicher Amtsinhaber konnte aber auch als Ausdruck seines allgemeinen Priestertums in der Inneren Mission mitmachen.


10. Die Stellung der Inneren Mission zur Kirche

Was unterschied die Innere Mission von der traditionellen kirchlichen Armenpflege?

  • Das Motiv: Integration von sozialer Zuwendung und Verkündigung des Evangeliums. Damit griff Wichern in das traditionelle kirchliche Aufgabenfeld ein: Verkündigung war bisher Amtssache!

  • Zusammenschluss und überregionale Organisation aller Hilfsbestrebungen

Wichern hatte ein Doppelkonzept: Freie Entfaltung bei Nähe zur (und Schirmherrschaft der) Kirche. Dies sollte 50 Jahre später der Gemeinschaftsbewegung als strukturelles Vorbild dienen (In – MIT – aber NICHT UNTER der Kirche).

Die Kirchenleitungen selbst begriffen erst am Ende des 19. Jh., dass die Diakonie als zentraler Faktor für die Kommunikation des Evangeliums in die Gesellschaft hinein wirkt und erklärten dann die Diakonie zu ihrer Sache. Heute wird von der soziologischen Systemtheorie klar herausgestellt, dass die Diakonie als „Erbringung von Leistung“ unverzichtbar für die Kirche ist, um überhaupt noch einen Bezug zu anderen Kommunikationssystemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw.) zu bekommen.

Außerdem hatten die Landeskirchen selbst kein arbeitsfähiges Dach im Sinne einer Zentralinstanz und brauchten somit die Innere Mission auch zur landeskirchenübergreifenden Kommunikation!


11. Wicherns Haltung zu staatlicher Sozialpolitik

In der Wicherngeneration gab es noch keine Forderung nach aktiver staatlicher Sozialpolitik, da man noch von einem christlichen Staat träumte, in dem die Christen selbst im Rahmen des allgemeinen Priestertums alle Missstände beheben. Wichern traut einer hierarchisch abgehobenen Ebene in Kirche und Staat keinerlei Veränderungskompetenz zu. Für ihn setzt alles an der Basis an: deswegen Vereine statt Politik und Kirche. Nur an der Basis konnte sich für ihn das Christentum wieder durchsetzen (in Familien und Vereinen), nie von oben herab. Staatliche Maßnahmen konnten vielleicht Not lindern, aber darauf kam es Wichern nicht an. Er wollte christianisieren, und dazu war die Politik nicht zu gebrauchen. Erst nach Wicherns Tod begriff man, dass im Zeitalter des weltanschaulichen Pluralismus die Diakonie auch politisch offensiv um einen Mitgestaltungsanspruch kämpfen muss (man nennt dies „Wichern II“).


12. Wichern: ein Fazit

Wichern ging es nicht vorrangig um die soziale Frage, auch nicht um die Rettung einzelner Seelen, sondern um die Entkirchlichungsproblematik. Wichern war mehr als nur ein Pietist, der aus innerer Überzeugung Menschen helfen wollte. Seine Vision war die geistliche Erneuerung Deutschlands durch die Überwindung sozialer Missstände. Historisch gesehen ist Wichern mit diesem Ziel, eine christliche Gesellschaft wieder herzustellen, gescheitert.

  • Systemtheoretisch gesehen hat er aber ein wichtiges Ziel erreicht! Dem Christentum wurde Bedeutung gesichert, es wurde modernisiert. Wichern behielt den alten christlichen Inhalt und goss ihn in die neue zeitgemäße Form von Sozialarbeit.

  • Man darf Wichern nicht als Sozialpolitiker bewerten, sondern als Religionspraktiker. Er hat die Bedeutung der Kirche in der Moderne gesichert, weil er Verkündigung mit Diakonie verbunden hat.

  • Bis heute hat sich die Diakonie neben der Kirche als wirkungsvolle christliche „Zweitstruktur“ erwiesen, die in der Lage ist, durch Leistung auch religiöse Sinngehalte zu kommunizieren. Heute würde ohne die Diakonie kaum noch jemand Bezug zur Kirche finden.

  • Das duale System sozialer Sicherung (freie Träger und staatliche Träger gehen Hand in Hand) ist bis heute von Wichern geprägt.


13. Theodor Fliedner und die ersten Diakonissen

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es praktisch keine Mitarbeit der evangelischen Frau in der diakonischen Arbeit. Theodor Fliedner (1800-1864) gilt als Begründer der weiblichen Diakonie. 1822 übernahm er sein erstes Pfarramt in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Da seine Gemeinde sehr verarmt war, unternahm er Kollektenreisen, die ihn 1832 zunächst nach Holland führten, wo er bei Mennoniten das Amt der Diakonisse kennen lernte, und danach nach England, wo er bei der Quäkerin Elizabeth Fry eine vielfältige kirchlich-soziale Tätigkeit erlebte.Völlig verzweifelt war damals nicht selten die Lage von verwitweten und unverheirateten Frauen. Fliedner sah es als seine große Sendung, diesen Frauen eine neue Aufgabe in der Gesellschaft zu geben. Nachdem Fliedner sich seit 1833 schon um entlassene weibliche Strafgefangene gekümmert hatte, eröffnete er zusammen mit seiner Frau Friederike 1836 in Kaiserswerth ein Krankenhaus. Der dortige Bedarf an Pflegerinnen führte ihn zur Gründung des Rheinisch-Westfälischen Diakonissenvereins. Die Einsegnung von Gertrud Reichardt am 20.10.1836 markierte den Beginn des neuzeitlichen Diakonissenwesens in Deutschland. Die Diakonissen bekamen von Fliedner die Tracht der verheirateten Bürgerfrau als Zeichen der Würde ihres Berufs. Hiermit eröffnete Fliedner der unverheirateten Frau ein neues Wirkungsfeld im öffentlichen Leben, und die Kaiserswerther Arbeit wurde zum Vorbild für weitere Mutterhausgründungen. Fliedner bildete ein ziemliches straffes preußisches System heraus, das auf unbedingten Gehorsam und Unterordnung aufgebaut war. Nicht die Eigenverantwortung, sondern der schlichte und pünktliche Gehorsam der Diakonisse standen obenan. Daneben sah auch Fliedner selbst die Notwendigkeit der männlichen Diakonie und gründete 1844 die zweite deutsche Diakonenanstalt (nach dem Rauhen Haus in Hamburg) in Duisburg. Die weibliche Diakonie fasste aber insgesamt im kirchlichen Leben viel schneller Fuß und stellte die männliche Diakonie auch zahlenmäßig weit in den Schatten: Bis 1900 entstanden im Deutschen Reich über 50 Mutterhäuser mit 10000 Diakonissen neben 17 Brüderhäusern mit insgesamt 2500 Diakonen.


14. Diakonische Konzeptionen

Mit den Namen Fliedner und Wichern verbanden sich zwei unterschiedliche Konzepte diakonischer Arbeit. Fliedner hatte als reformierter Pfarrer eine sehr kirchennahe Perspektive, während der Lutheraner Wichern, der nie ein Pfarramt übernehmen konnte, von Beginn an auf freie Vereine als Träger der diakonischen Arbeit setzte. Der Hauptunterschied war dabei die unterschiedliche Gewichtung von pflegerischen und missionarischen Aspekten. Während Wicherns soziale Aktivitäten immer aufs engste mit volksmissionarischen Intentionen verknüpft und am Ende auch dafür instrumentalisiert wurden, betonte Fliedner bewusst die pflegerischen Aspekte vor den missionarischen, sowohl bei den Diakonissen als auch bei den Diakonen.Nach innen war Fliedner viel stärker vom katholischen Ordensgedanken beeinflusst, was sich vor allem in der lebenslangen Bindung der Diakonissen und Diakone an die Ausbildungsstätte, dem Mutterhausprinzip, äußerte. Neben diesen Unterschieden aber entwickelte sich durch Fliedner und Wichern ein im Großen und Ganzen einheitlicher Typus von Diakonen und Diakonissen. Charakteristisch waren dafür die Begriffe Berufung, Gemeinschaft und Dienst. Die Grundlage des neuen Berufsbildes war die Überzeugung, berufen zu sein, woraus Wichern bald das Sendungsprinzip zur Arbeitsplatzfindung entwickelte. Man verstand sich nicht als Sozialarbeiter(in) mit christlicher Gesinnung, sondern als Reichsgottesarbeiter(in). Daher standen auch die geistliche und charakterliche Qualifikation im Vordergrund, die Bildungsvoraussetzungen spielten eine untergeordnete Rolle. Im Alltag wurde bei Diakonen und Diakonissen der Gemeinschaftsaspekt stark betont, da man davon ausging, nur in der gegenseitigen Bestätigung und Korrektur die Kraft zu empfangen, um den Dienst in einer oft kirchenfeindlichen Umgebung zu tun. Dabei war das Erziehungsziel immer die nachgeordnete Mitarbeit in der Inneren Mission, der Dienst aufopfernder Liebe. Hierbei flossen biblische Aspekte wie Demut, Zucht und Mäßigung schnell mit den preußischen Sekundärtugenden zusammen: Treue, Opferbereitschaft, Fleiß, Pünktlichkeit, Gehorsam, Bescheidenheit.Die Ehelosigkeit der Diakonissen war von Anfang an nie als Zölibat im Sinne eines geistlichen Gelübdes gedacht. Das Frauenbild der damaligen Zeit ließ es aber für Fliedner selbstverständlich erscheinen, dass eine Ehefrau ihre Aufgabe in der Hingabe an die Familie hätte, und dass von daher eine verheiratete Diakonisse rein pragmatisch nicht vorstellbar war. Bei den Diakonen allerdings war eine Verheiratung geradezu erwünscht, da viele Brüder als Leiter diakonischer Anstalten auf die Unterstützung einer Ehefrau angewiesen waren.Neben Fliedner entwickelten Franz Härter in Straßburg und Amalie Sieveking in Hamburg Alternativmodelle des Diakonissenwesens, die das gemeinschaftliche Leben und die demokratische Mitbestimmung der Schwestern stärker betonten. Sie setzten sich allerdings gegen das Fliednersche Modell nicht durch, da sich die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie mit ihrer stark funktionalen Orientierung an sozialen Dienstleistungen und einer effektiven Kosten-Nutzen-Relation in das leistungsorientierte System der beginnenden Industriegesellschaft weitaus besser einfügen konnte. 1854 gründete der streng lutherische Wilhelm Löhe (1808 – 1872) ein Diakonissen-Mutterhaus in Neuendettelsau bei Nürnberg, das weitreichende Bedeutung bekam. Hermann Bezzel (1861-1917) übernahm als dritter Nachfolger von Wilhelm Löhe das Werk der bayrischen Erweckung. In seinem Amt als Rektor der Diakonissenanstalt und später als bayrischer Bischof arbeitete Bezzel für einen lutherisch-erwecklich-
diakonischen Aufbruch der Kirche.

Der Réveil in Frankreich

Die Erweckung in Frankreich war durch Auswirkung der Genfer Ereignisse bewirkt worden. Henry Pyt und Ami Bost predigten in Südfrankreich und führten viele Menschen zum Glauben. Aber erst durch Adolphe Monod (1802-56) kam es in den 1830er Jahren zu einer echten Erweckungsbewegung in Frankreich. Monod hatte sich 1827 in Neapel bekehrt und wurde Prediger der reformierten Gemeinden in Lyon. In einem Streit um den rechten Abendmahlsgenuss kam es zur Trennung von der reformierten Gemeinde und zur Gründung der ersten freien Gemeinde in Lyon unter Monod. Später wirkte er als Pastor in Paris, vernachlässigte aber niemals die erweckliche Evangelisationspredigt. Auch er konnte Tausende zum Glauben


Die Niederlande

Unter reformiertem Einfluss stand auch die Erweckung in den Niederlanden, die durch den Universalgelehrten Willem Bilderdijk (1759-1831) angestoßen wurde. Bilderdijk war Jurist, Philosoph, Historiker, Dichter und Schriftsteller in einem. Er wandte sich gegen den zunehmenden Liberalismus an den Universitäten und in der Politik, ohne die höheren Stände erreichen zu können. Sein Schüler wurde Groen van Prinsterer (1801-76), der zusammen mit Isaac da Costa die Erweckung in Holland durchsetzte. Charakteristisch wurde hier die starke Betonung des Calvinismus, der mit der Erweckung zu einer neuen Blüte kam. Dabei waren die Einflüsse der Genfer Erweckungstheologen entscheidend. Unter Abraham Kuyper drang dieser Neocalvinismus später auch in die Politik ein. Er führte zu verschiedenen Spaltungen innerhalb der reformierten Staatskirche in Holland, aber auch zur Gründung von protestantischen Parteien und einer eigenen, bibeltreuen Hochschule in Amsterdam.


Skandinavien

In Schweden blieb die durch die Herrnhuter vorbereitete Erweckungsbewegung in lutherischen Bahnen. Karl Olof Rosenius (1816-68) wirkte dort als Missionsprediger, der die kirchenkritischen Kreise sammeln und einigen konnte.
In Norwegenbegann die Erweckung mit dem Evangelisten Nils Hauge (1771-1824), der als Laienprediger von Stadt zu Stadt zog. Auch er warnte vor einer Trennung von der Landeskirche, drängte den Rationalismus zurück und hatte Einfluss auf Politik und Wirtschaft. So verblieben auch die norwegischen Erweckten innerhalb der lutherischen Kirche, bildeten aber missionarische Vereine auf Ortsebene.
Auch Dänemark kannte eine Erweckungsbewegung. Zu nennen ist hier Pastor Severin Grundtvig (1783-1872), der eine große Bewegung hinter sich bringen konnte. Auch hier stand der Einfluss auf die Gesellschaft sowie Bekehrung und Wiedergeburt im Mittelpunkt der Verkündigung.
In Finnland wird der Bauer Paavo Ruotsalainen (1777-1852) zum Führer einer volkstümlichen Erweckungsbewegung, die breite Volksschichten erreicht.

Die Äußere Mission zur Zeit der Erweckungsbewegung


Die deutschsprachigen klassischen Missionsgesellschaften

Schon 1780 war in Basel die Deutsche Christentumsgesellschaft gegründet worden. Nachdem zunächst nur die Förderung lebendigen Glaubens im deutschsprachigen Bereich beabsichtigt war, kam es bald durch intensive Kontakte nach England auch zur Förderung und finanziellen Unterstützung des Missionsgedankens. Durch die Wirren der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege und den etwas späteren (als in England) Erweckungsschub in Deutschland verzögerte sich aber die praktische Verwirklichung von kontinentalen Missionsgesellschaften.

Im Jahr 1800 kam es durch den Berliner Pfarrer Johannes Jähnicke (1748-1827) zur Gründung des ersten deutschen Missionsseminars in Berlin. Genau zu der Zeit als die Aufklärung in Deutschland noch ihre Triumphe feierte und die dänisch-hallische Mission ihren Niedergang erlebte, begann er sieben junge Männer in Englisch, Latein, Homiletik und Bibelkunde für den Missionsdienst auszubilden. Innerhalb der folgenden 50 Jahre wurden von hier 80 Missionare in alle Welt geschickt. Der berühmteste davon wurde Karl Gützlaff (1803-1851), der eine visionäre Arbeit in China begann.

  • 1815 kommt es zur Gründung der Basler Mission. Sie sammelte die Missionsfreunde aus der Schweiz, dem Elsass, Österreich und Süddeutschland. 1816 wurde dazu das Basler Missionsseminar gegründet. Hier wurden viele Kräfte gebündelt, so dass in den 100 Jahren bis zum 1.Weltkrieg 450 Missionare ausgesandt werden konnten. Zunächst ging man in holländische und englische Kolonialgebiete, ab 1884 dann verstärkt auch in die neuen deutschen Kolonien (Kamerun, Togo, Namibia).

  • 1824 wurde die Berliner Mission aus erweckten Kreisen der preußischen Landeskirche gegründet. 1833 wurden die ersten eigenen Missionare nach Südafrika ausgesandt, wo man bis zum Ende des Jahrhunderts ca. 100 Missionare, 800 einheimische Mitarbeiter und 55.000 getaufte Christen vorweisen konnte. Später gingen Berliner Missionare auch nach Indien und China. 1833 stieß der bekehrte ex-katholische Priester Johannes Gossner zur Berliner Mission und gründet 1836 dann eine eigene Missionsgesellschaft, die Goßnersche Mission, die in den folgenden 100 Jahren fast 300 Missionare (vor allem nach Indien) aussandte.

  • 1828 kam es zur Gründung der Rheinischen Mission (heute VEM). 1830 gingen die ersten Missionare nach Südafrika, später auch nach Namibia, China und Indonesien. Ludwig Nommensen (1834-1918) gründete als Missionar der Rheinischen Mission eine lebendige lutherische Volkskirche unter den Batak im muslimischen Indonesien.

  • 1836 Gründung der Norddeutschen Mission, die bis heute im westafrikanischen Togo und Ghana eine kleine hingebungsvolle Arbeit betreibt.

Gemeinsam war den klassischen Missionsgesellschaften, dass sie nicht im Auftrag irgendeiner Kirche handelten. Daher lag es auch nicht in ihrer Absicht Außenstellen der Heimatkirchen zu gründen, sondern es ging ihnen einfach um die Bekehrung von Heiden. Daher konnte man auch sehr gut überdenominationell und international zusammenarbeiten. Die klassischen deutschen Missionsgesellschaften waren somit zunächst nicht durch ihre Konfession, sondern durch ihre regionale Aufteilung gekennzeichnet. In Süddeutschland unterstützten die erweckten Christen die Basler Mission, im Osten die Berliner Mission, im Westen die Rheinische Mission und Norden die Norddeutsche Mission. Die Missionare arbeiteten auf dem Missionsfeld mit Anglikanern, Reformierten, Lutheranern und Freikirchlern zusammen. Als sich aber die englischen Missionsgründungen immer stärker organisatorisch den verschiedenen englischen Kirchentümern anglichen, entstand in Deutschland die Frage, welches theologische Bekenntnis eigentlich an den deutschen Missionsseminaren unterrichtet werden sollte?

Parallel entdeckten weite Kreise der deutschen Erweckungsbewegung ihren konfessionellen Hintergrund. Es entstand eine Neubesinnung auf das lutherische bzw. reformierte Erbe. Nun wurde Mission verstärkt auch als Anliegen von Kirchengemeinden getragen. In diesen Kreisen wuchs der Wunsch, eigene Missionare nun auch bewusst in der konfessionellen Tradition zu prägen. Daher entstanden in einer zweiten Phase nach den klassischen überkonfessionellen Missionsgesellschaften nun die konfessionellen Missionen:


Die Leipziger Mission (1836)

In Sachsen gab es schon seit 1819 einen Hilfsverein für die Basler Mission. 1832 entstand in Dresden dazu eine kleine Missionsschule. Als sich 1834 zwei dieser Zöglinge weigerten, nach zur weiteren Ausbildung nach Basel zu gehen, weil sie einen calvinistischen Einfluss auf ihren lutherischen Glauben befürchteten, gründete man 1836 in Dresden eine eigene betont lutherische sächsische Missionsgesellschaft, die 1848 nach Leipzig verlegt wurde. Ihre Prinzipien waren:

  • Gründung von lutherischen Bekenntnisgemeinden in Übersee

  • Förderung eines ersten deutschen Lehrstuhls für Missionswissenschaft

  • Ziel, dass jede deutsche lutherische Gemeinde einen Missionar unterstützt.

  • Jeder Missionar braucht ein abgeschlossenes Theologiestudium, eine Zusatzausbildung (in Leipzig) und einen Freundeskreis.

  • Genaue Kulturelle Anpassung der Missionsarbeit

  • Man übernimmt offiziell die Arbeiten der Dänisch-Hallischen Mission.

Die Leipziger Mission erhielt ihre entscheidende Prägung durch ihren Leiter Karl Graul. Um sich ein besseres Bild von den Anforderungen im Missionsland und von der tamilischen Kultur zu machen, ging er von 1849-1853 selbst nach Indien. Er analysierte seine Erfahrungen nach seiner Heimreise in einem fünfbändigen Werk, in dem er versuchte Missionsarbeit und Wissenschaft zu verbinden. Noch kurz vor seinem Tod habilitierte er in Missionswissenschaft.


Die Neuendettelsauer Mission (1841)

Wilhelm Löhe (1808-1872) wurde 1837 lutherischer Pfarrer im kleinen fränkischen Ort Neuendettelsau, von dem er vorher gesagt hatte: „Nicht tot möchte ich in dem Neste sein!“ Als er hörte, dass deutsche Lutheraner in Nordamerika geistliche Unterstützung brauchen, gründete er 1841 eine eigene Ausbildungsstätte, aus der später Missionare nach Amerika, Australien und Neuguinea gesandt wurden. 1854 gründete er auch ein Diakonissenhaus.


Die Hermannsburger Mission (1849)

Ludwig Harms (1808-1865) übernahm 1849 die Pfarrstelle seines Vaters in seinem Heimatort Hermannsburg in der Lüneburger Heide. Davor hatte er sich lange mit dem Gedanken getragen selbst Missionar zu werden, nun als Pfarrer predigte er so leidenschaftlich für die Mission, dass sich schon nach kurzer Zeit einige junge Männer zum Missionsdienst meldeten. Deshalb eröffnete er noch im selben Jahr in Hermannsburg mit 12 Kandidaten ein Missionsseminar, das von den erweckten Kreisen der Umgebung finanziell und im gebet getragen wurde. 1857 wurden die ersten 12 Missionare ordiniert. Die Missionare gingen vor allem (bis heute) nach Südafrika um dort lutherische Gemeinden aufzubauen.


Die Breklumer Mission (1876)

Christian Jensen (1839-1900) wurde 1873 lutherischer Pastor im schleswig-holsteinischen Breklum. Hier orientierten sich die Missionsfreunde zunächst nach Basel, dann nach Leipzig und Neuendettelsau. Seit der Gründung Schleswig-Holsteins 1864 wuchs hier der Wunsch nach einer eigenen Missionsgesellschaft, die 1879 durch Jensen gegründet wurde. Die Missionare gründeten vor allem in Indien lutherische Gemeinden.

Grundfragen
▶︎ Was ist Pietismus?
▶︎ Was verstehen wir unter Neupietismus?

Der Barockpietismus
▶︎ Vorläufer des Pietismus
▶︎ Philipp Jakob Spener
▶︎ August Hermann Francke
▶︎ Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
▶︎ Die Äußere Mission

Die Erweckungsbewegung
▶︎ Vorläufer der Erweckungsbewegung
▶︎ Ein Überblick über die deutsche Erweckungsbewegung
▶︎ Analyse und Bewertung der Erweckungsbewegung
▶︎ Internationale erweckliche Aufbrüche im 19. Jahrhundert
▶︎ Die Entstehung der Inneren Mission
▶︎ Die Äußere Mission zur Zeit der Erweckungsbewegung

Die Entstehung der Gemeinschaftsbewegung
▶︎ Die Lage in Deutschland um 1875
▶︎ Die Heiligungsbewegung
▶︎ Die Evangelisationsbewegung
▶︎ Die Heilungsbewegung
▶︎ Die Gründung der organisierten Gemeinschaftsbewegung
▶︎ Die Glaubensmissionen
▶︎ Die Abspaltung der Pfingstbewegung
▶︎ Die Evangelische Allianz

Der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband
▶︎ Die Entstehung des DGD und seiner Einrichtungen
▶︎ Die Marburger Mission