Forschungsstelle Neupietismus
Grundinformationen zum Neupietismus
Grundfragen
Was ist Pietismus?
1. Was bezeichnet man als „Pietismus“?
Der Begriff Pietismus kommt vom lateinischen pietas = Frömmigkeit. Um 1680 beginnt man in Deutschland zunächst spöttisch bestimmte Gruppen, die sich um geistliche Erneuerung bemühen, Pietisten (also „Frömmler“) zu nennen. 1689 bringt der Leipziger Pietistenfreund Joachim Feller es mit dem Gedicht auf den Punkt:
Es ist jetzt stadtbekannt der Nam der Pietisten. Was ist ein Pietist?
Der Gottes Wort studiert und nach demselben auch ein heilig Leben führt.
Diese Gruppen übernehmen dann bald den Begriff Pietismus als ehrenvolle Selbstbezeichnung. Zwischen 1690 und 1730 wird dieser Pietismus in Deutschland zu einer starken und gesellschaftsprägenden Kraft. Danach wird er immer mehr von der Aufklärung verdrängt, dennoch bleibt er hier und dort auch im 18.Jh. von Bedeutung.
Manche Forscher (wie z.B. Johannes Wallmann) bezeichnen mit dem Begriff Pietismus nur jene Epoche von ca. 1670 – 1750 mit ihren Vorläufern und Nachwirkungen. Andere (wie z.B. Martin Brecht) fassen unter dem Begriff Pietismus alle ähnlich geprägten geistlichen Erneuerungsbewegungen von 1600 bis zur heutigen Gemeinschaftsbewegung. Dabei wird dann manchmal noch differenziert zwischen dem Neupietismus, der seit Ende des 19. Jahrhunderts starke zusätzliche Impulse aus der angloamerikanischen Heiligungsbewegung aufnahm und dem Altpietismus, der davon weniger berührt wurde.
2. Die Kennzeichen des Pietismus
Der Pietismus ist durch folgende Akzente gekennzeichnet:
Bekehrung und Wiedergeburt: Der Pietist hat eine Erfahrung der persönlichen Hinwendung zu Gott und der geistlichen Erneuerung gemacht.
Heiligung: Das alltägliche Leben des Pietisten soll nach Gottes Willen und in der Verbindung zu ihm gestaltet werden.
Gemeinschaft: Die geistliche Erbauung sucht der Pietist in kleinen Gruppen Gleichgesinnter (Konventikel). In dieser Gemeinschaft wird Glaube gelebt.
Bibelstudium: Lebensrichtschnur ist für den Pietisten allein die Heilige Schrift. Sie wird persönlich und in Gemeinschaft studiert, vor allem um daraus Impulse für die persönliche Heiligung zu gewinnen.
Überwindung von Konfessionsgrenzen: Wer wiedergeboren ist und ein geheiligtes Leben führt, der gilt als Bruder oder Schwester, egal, welcher Kirchenorganisation er angehört.
Abgrenzung zur Welt: Wer nicht wiedergeboren ist, der gehört nicht zur Gemeinschaft der Kinder Gottes. Von diesen Personen grenzt man sich ab.
3. Die Spielarten des Pietismus
Es lassen sich sechs verschiedene Grundrichtungen des Pietismus unterscheiden:
Der lutherische Pietismus (Spener): gemeinschaftsliebend und luthertreu.
Der hallesche Pietismus (Francke): zuchtvoll, strukturiert und weltverändernd
Der reformierte Pietismus (Tersteegen): innig, mystisch, laienfördernd
Der Herrnhuter Pietismus (Zinzendorf): ökumenisch, liebevoll, mit Weltperspektive
Der schwäbische Pietismus (Bengel): tiefsinnig, grüblerisch, kirchennah
Der radikale Pietismus (von Buttlar): separatistisch, häretisch
4. Der Pietismus - ein Kind der Neuzeit?
Der Pietismus ist in gewisser Weise eine „moderne“ Erscheinung. Der in der Zeit liegende Individualismus führte dazu, dass auch Christen sich verstärkt um das individuelle geistliche Leben kümmerten. Der Zeitgeist der Moralisierung passte gut zur neuen Betonung der Heiligung. Die allgemeine Verschiebung der Blickrichtung von absoluten Lehrsätzen hin zur persönlichen Erfahrung (Empirismus) war von Pietisten gut nachvollziehbar. Auch die nach den Religionskriegen allgemein wachsende Entfremdung von der mit dem Staat verwobenen Großkirche konnten Pietisten sehr gut teilen. Der entscheidende Unterschied zur Aufklärung lag nur darin, dass man bei aller Kritik an der Kirche doch an den Inhalten der Orthodoxie festhielt. Das neuzeitliche Bewusstsein wurde verbunden mit dem traditionellen absoluten Vertrauen in die Wahrheit der Heiligen Schrift und nicht (wie in der Aufklärung) mit einem neuen Vertrauen auf die Vernunft.
Insofern kann der Pietismus tatsächlich als eine moderne Bewegung betrachtet werden, die versucht hat sich voll auf das neuzeitliche Bewusstsein einzustellen und dabei fest auf dem Boden der Bibel zu bleiben.
Was verstehen wir unter "Neupietismus"?
Als im Jahr 2006 unsere Forschungsstelle Neupietismus gegründet wurde, geschah die Begriffswahl „Neupietismus“ mit einer heuristischen Absicht, die in der Satzung unter anderem so formuliert wurde, dass es ein zukünftiges Ziel der Forschungsstelle sei „den Begriff Neupietismus zu definieren und seine Verwendung zu klären“. Beim ersten Neupietismus-Symposium im September 2009 lieferte Frank Lüdke eine vorläufige Definition:
„Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass unter den Begriff Neupietismus diejenigen Bewegungen in der Evangelischen Kirche zu fassen sind, die in der Tradition des Barockpietismus und der Erweckungsbewegung stehen und diese für die Gegenwart fruchtbar gemacht haben. Ihre Kennzeichen sind das Selbstverständnis als Gruppen von Menschen, die eine persönliche Beziehung zu Jesus pflegen und das gemeinschaftliche Bibelstudium hoch schätzen, was schließlich zu einem von der Bibel geprägten Lebensstil führen soll. Organisiert ist man in Vereinen, trifft sich vielfach auf Konferenzen und engagiert sich für Diakonie, Evangelisation und Äußere Mission. Daneben besteht eine starke interdenominationelle und internationale Vernetzung mit dem globalen Evangelikalismus.“
In der Gegenwart findet sich dieser „Neupietismus“ vor allem im Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband, also in der Gemeinschaftsbewegung, allerdings mit zwei bedeutenden Erweiterungen, nämlich auf der einen Seite dem so genannten „innerkirchlichen Pietismus“, der im Raum der EKD auch außerhalb des Gnadauer Verbands in vielen Kirchengemeinden und Initiativen auftritt, und auf der anderen Seite dem im weiteren Rahmen der Evangelischen Allianz unter Einbeziehung des Freikirchentums organisierten Evangelikalismus.
Diese Begriffs-Definition von „Neupietismus“ soll im Folgenden in einen historischen Kontext gestellt werden.
1. Drei verschiedene historische Definitionen des Begriffs „Neupietismus“
Wenn man die Literatur von Theologie und Geschichtswissenschaft der letzten 150 Jahre nach dem Begriff „Neupietismus“ durchsucht, lassen sich drei verschiedene Gebrauchsweisen unterscheiden.
1.1. Neupietismus im weitesten Sinn = innerkirchliche Erneuerungsbewegungen seit 1800
Teilweise wird der Begriff Neupietismus relativ unscharf auf alle innerkirchlichen erwecklich-evangelischen Frömmigkeitsbewegungen der Vergangenheit, zurückreichend bis in das frühe 19. Jahrhundert, bezogen. Martin Schmidt schreibt 1962 in seinem EKL-Artikel zumBegriff Nerupietismus: „Neupietismus, zusammenfassende Bezeichnung für alle Bewegungen, die im 19. und 20. Jh., den Ansatz des alten Pietismus teils bewusst, teils unbewusst wiederaufnahmen.“ Auch Otto Rodenberg formuliert 1969 ähnlich: „Unter Neupietismus verstehen wir etwas summarisch den Pietismus des 19. und 20. Jahrhunderts.“ Man sah zwar sehr bewusst, dass sich die Gemeinschaftsbewegung in wesentlichen Punkten von der Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts unterschied, vor allem durch die angloamerikanischen Einflüsse, welche die Akzente der Evangelisation und der Heiligung wesentlich verstärkt hatten. Dennoch war die Schnittmenge offensichtlich, die beide Bewegungen mit den Grundanliegen des Barockpietismus verband, sodass man sie beide berechtigterweise als sukzessive Nachfolger der frühpietistischen Tradition ansah und nicht unpassend mit dem Sammelbegriff „Neupietismus“ versah. Nach dieser Definition wäre also „Neupietismus“ ein Sammelbegriff für alle erwecklichen Strömungen innerhalb der evangelischen Kirche, die seit ca. 1800 Traditionen des Barockpietismus weitertragen und immer wieder neu beleben.
1.2. Neupietismus im engeren Sinn = Gemeinschaftsbewegung seit 1875
Um 1900 begannen Gegner der Gemeinschaftsbewegung, eben diese als „Neupietismus“ zu bezeichnen. In der Folgezeit stzte sich dann vielfach durch, dass auch Vertreter der Gemeinschaftsbewegung selbst sowie Historiker diese Begriffsfüllung übernahmen und bis heute verwenden. Dazu zwei kurze Beispiele:
Johannes Jüngst schreibt schon 1906 über „die moderne, neupietistische Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung“ die er auch den „heutigen Neupietismus“ nennt und ihn als ein „Neuauftreten des reinen Pietismus“ charakterisiert.
Hans Preuß versteht 1926 „unter Neupietismus die Frömmigkeitsbewegung die genau 200 Jahre später [d.h. nach dem Erscheinen von Speners ‚Pia Desideria‘], 1875, durch englisch-amerikanische Anregung auf deutschem Boden unter dem Namen der ‚Gemeinschaftsbewegung‘ anhob und bis zur Gegenwart angehalten hat.“
1.3. Neupietismus im speziellen Sinn = die besonders angloamerikanisch geprägten Verbände der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung
Wir sehen also, dass die Gemeinschaftsbewegung gerade deshalb mit dem Begriff „neupietistisch“ qualifiziert wurde, weil durch die angloamerikanische Heiligungsbewegung tatsächlich neuartige Zuflüsse aufgenommen wurden. Man könnte also sagen: Nur dort, wo wirklich „Neues“ prägend wurde, kann man wirklich von Neupietismus sprechen. Daraus ergab sich, dass man begann, auch innerhalb der Gemeinschaftsbewegung zwischen Alt- und Neupietismus zu unterscheiden.
Dabei wird „Neupietismus“ typologisch verstanden als eine inhaltlich gefüllte Prägung, die einen besonderen Akzent auf Evangelisation und Heiligung legt. Diese zunächst typologische Begriffsdefinition führte dann in der Gemeinschaftsbewegung bald dazu, dass man bestimmte Verbände eher dem einen oder anderen Typ zuordnete. Ludwig Tiesmeyer versteht 1917 „den Neupietismus“ als eine von sechs verschiedenen Gemeinschaftsströmungen: „Sämtliche vorhandenen Gemeinschaften gliedern sich in folgende sechs Kreise: in die altpietistischen, in die Hahnschen, in die Pregizerianischen, in die der Reichsbrüder, in die Kukatschen und in die des Neupietismus.“ Dabei ist interessant, dass zu der Zeit nur zwei der sechs Richtungen im Gnadauer Verband organisiert waren. Die Hahnschen, Pregizerianer, Kukatianer wurden nie Mitglied im Gnadauer Verband und die Reichsbrüder erst unter Existenz-Druck 1933. Bis zum Dritten Reich gab es von daher aus dieser Perspektive innerhalb Gnadaus nur zwei Grundströmungen: Altpietisten und Neupietisten.
Dazu kam, dass die stark neupietistisch geprägten Gemeinschaftsverbände vor allem in Ostdeutschland ihren Schwerpunkt hatten, so dass man den Neupietismus manchmal auch regional zuordnete. Der langjährige Gnadauer Präses Walter Michaelis beschrieb das im Rückblick auf die Geschichte des Gnadauer Verbands vor dem 2. Weltkrieg so: „Nach seiner Gründung trat bald der Gegensatz zwischen ‚Osten und Westen‘, wie man kurzweg sagte, auf den Konferenzen und in den Vorstandssitzungen stark hervor. Die theologischen Beobachter der Bewegung nannten es den Unterschied zwischen Alt- und Neupietismus.“ So kam es dazu, dass innerhalb des Gnadauer Dachverbands bald ganze Mitgliedsverbände eher dem „Altpietismus“ oder dem „Neupietismus“ zugerechnet wurden, je nachdem, wie schwach oder stark die Akzente aus der angloamerikanischen Heiligungstheologie und Evangelisationspraxis aufgenommen wurden. Teilweise wird diese inner-gnadauer Unterscheidung, die also zunächst typologisch gefüllt und dann auf einzelne Verbände angewendet wurde, auch einfach als zeitliche Abfolge definiert, da eben jene „neupietistischen“ Verbände auch so gut wie deckungsgleich mit den jüngeren Verbänden Gnadaus sind.
Otto Rodenberg schreibt 1970: „Um das jüngere Werk gegenüber dem älteren zu kennzeichnen, hat man es gelegentlich neupietistisch genannt. Noch ausgeprägter dürfte die Bezeichnung in Württemberg anzutreffen sein, einfach deshalb, weil es dort nominell einen ‚altpietistischen Gemeinschaftsverband‘ gibt, demgegenüber andere Verbände selbstverständlich neupietistisch genannt werden mussten und konnten.“
2. Die Entwicklung des Begriffs
Wie von Otto Rodenberg schon angedeutet, hat der Begriff „Neupietismus“ eventuell seine älteste Wurzel in einer komplementären Nachbildung zum Begriff der württembergischen „Altpietisten“, die sich seit 1857 unter diesem Namen organisiert hatten. Danach scheint es eine Phase gegeben zu haben, in der der Begriff „Neupietismus“ zunächst von Gegnern auf die Gemeinschaftsbewegung angewendet wurde. Im weiteren Verlauf wurde der Begriff von Vertretern der Gemeinschaftsbewegung selbst übernommen, um eine bestimmte, besonders neuartige Strömung innerhalb der Bewegung zu identifizieren, und sich damit intern zu differenzieren. Diese neupietistische Strömung, bzw. Prägung konnte von Beginn an durch klare Merkmale beschrieben werden (vor allem die Betonung von Evangelisation und Heiligung) und sogar einzelne Gnadauer Mitgliedsverbände konnten damit sinnvoll identifiziert werden (z.B. EC, Liebenzell, Zeltmission, DGD). Da diese Binnendifferenzierung von Alt- und Neupietismus innerhalb der Gemeinschaftsbewegung aber vor allem außerhalb Württembergs von außen kaum nachvollziehbar war, wurde von außen der Begriff „Neupietismus“ teilweise auch auf alle pietistisch geprägten Gruppierungen der Neuzeit ausgeweitet, was dann sogar über den organisierten Gnadauer Verband hinausgeht, da es fließende Übergänge und Verbindungen sowohl zum innerkirchlichen Pietismus als auch zum weiteren Raum der Evangelischen Allianz gibt.
3. Identitätskonstruktionen
Jörg Ohlemacher schreibt: „Mit dem Begriff Neupietismus hat man ähnlich wie mit Erweckung versucht, Kontinuitäten mit vorauslaufenden Epochen der Frömmigkeitsgeschichte herzustellen.“
Die Anwendung des über 300 Jahre alten Begriffs „Pietismus“ auf eine gegenwärtig existierende Bewegung soll also eine Kontinuität konstruieren. Man möchte gemeinsam mit dem Barock-Pietismus in einer Linie gesehen, verstanden und beurteilt werden. Deshalb bezeichnen sich bis heute viele Werke und Personen aus der Gemeinschaftsbewegung als „pietistisch“.
Genau diese Identitätskonstruktion wird nun aber massiv infrage gestellt und zwar vor allem von dem methodistischen Kirchenhistoriker Karl Heinz Voigt.
Nachdem Voigt schon seit gut 20 Jahren verschiedentlich zu diesem Thema die Stimme erhoben hatte, ist 2014 sein Band Der Zeit voraus – Die Gemeinschaftsbewegung als Schritt in die Moderne? erschienen, in dem er versucht seine These massiv zu untermauern, dass es nicht angemessen sei, die Gemeinschaftsbewegung als „Neupietismus“ zu bezeichnen. Er hält die Anwendung dieses Begriffs auf die Gemeinschaftsbewegung für eine nicht zutreffende, aber dennoch bewusst selbst gesteuerte Identitätskonstruktion. Aus seiner Sicht steht die Gemeinschaftsbewegung eben gerade nicht in einer Traditionslinie mit dem Pietismus, sondern in viel stärkerem Maße mit der angloamerikanischen methodistischen Bewegung, so dass man den Gnadauer Verband viel treffender als „landeskirchlichen Methodismus“ (101) bezeichnen müsste. Die neuartige Betonung auf Evangelisation und Heiligung, die Gründung von eigenständigen Versammlungen und das praktizierte allgemeine Priestertum, das zur „Verkündigung durch autorisierte Laienprediger oder Laienevangelisten führte“ (34), seien typisch methodistische Anliegen gewesen, die von Theodor Christlieb und den Gnadauer Gründervätern bewusst in den Raum der evangelischen Landeskirchen eingebracht wurden, um sie neu zu beleben.
Gleichzeitig aber war damals der Begriff „methodistisch“ im allgemein-kirchlichen Bewusstsein so negativ belastet, dass man sich sprachlich und organisatorisch bewusst davon abgegrenzt hat. Damit wollte man sich dem entziehen, von einer Methodismus-Kritik betroffen zu werden, „die das gesetzte Ziel, die Evangelisierung Deutschlands, schwer behindert haben würde.“ (48) Denn „die freikirchliche Erfahrung zeigte, welchen Vorteil es in der öffentlichen Wahrnehmung gerade im Zusammenhang mit der Evangelisation bedeutete, als ‚kirchlich’ in Erscheinung treten zu können und damit […] von dem kirchlicherseits erzeugten Bild einer ‚außerkirchlichen Sekte’ frei zu sein.“ (62)
Allerdings stand auch der Begriff „Pietismus“ vor allem durch die Kritik zunächst von Albrecht Ritschl schon seit 1880 und später von Karl Barth in der Weimarer Republik in einem schlechten Ansehen, so dass man sich nur sehr selten selbst als „pietistisch“ und schon gar nicht als „neupietistisch“ bezeichnete. Wenn überhaupt dann wurden diese Label von außen oder als Kategorien im akademischen Diskurs verwendet. Erst nach dem 2. Weltkrieg begann man in der Gemeinschaftsbewegung sich mehr und mehr als Teil des „Pietismus“ zu bezeichnen, was dann in der Amtszeit von Kurt Heimbucher und Christoph Morgner seit den 1980er Jahren geradezu als ehrenvolle Selbstbezeichnung verwendet wurde.
4. Zur Brauchbarkeit des Begriffs „Neupietismus“
Der Begriff „Neupietismus“ ist von unserer Marburger „Forschungsstelle Neupietismus“ in den letzten 15 Jahren als wissenschaftliche Kategorie ins Gespräch gebracht worden, gerade um damit deutlich zu machen, dass es bei denjenigen, die die Grundanliegen des Pietismus bis heute weitertragen, um eine Frömmigkeitsbewegung geht, die über die bloße „Gemeinschaftsbewegung“ hinausgeht. Es soll dadurch eben der unorganisierte „innerkirchliche Pietismus“ genauso im Blick bleiben, wie die vielfältigen Verflechtungen in den freikirchlichen Bereich hinein.
Der Alternativbegriff „Evangelikalismus“ umfasst typologisch und organisatorisch allerdings weit mehr als den Neupietismus. Die Begriffe sind also nicht deckungsgleich verwendbar, sondern der Neupietismus bildet nur eine Teilmenge des Evangelikalismus. Zudem wird der Begriff „evangelikal“ im Bereich der Gemeinschaftsbewegung nur selten angewandt, da er vielfach heute – ähnlich wie der Begriff „Methodismus“ vor 150 Jahren – als amerikanisch, möglicherweise „fundamentalistisch“ und damit letztlich negativ empfunden wird.
So erscheint der Begriff „Neupietismus“ als historiographische Klassifikation am brauchbarsten, entweder in einem engeren Sinn, um bestimmte Strömungen innerhalb der Gemeinschaftsbewegung zu identifizieren, oder in einem weiteren Sinn um die Gemeinschaftsbewegung und ihre Ränder insgesamt in die Frömmigkeitsgeschichte einzuzeichnen. Dabei lässt der Begriff „Neupietismus“ offen, welcher der beiden Begriffsteile der entscheidende ist, das Neue oder der Pietismus, also entweder die Theologie und Organisationsformen, die aus der englischsprachigen Welt übernommen wurden oder die alten deutschen Traditionslinien. Genau diese Offenheit macht den Begriff auf unterschiedlich geprägte Kontexte anwendbar, wie es für die Erforschung einer vielfältigen Bewegung notwendig ist.